Endlich gehörte er dazu. Ein Spezialist.
Die Übriggebliebenen hatten gut gesammelt in diesem Jahr. Schon am Heiligen Abend versprach sein junger Besitz mitsamt des verheißungsvoll unverständlichen Manuals Zugehörigkeit.
Aber aufgebaut wird erst morgen früh!

War das also eine Art Wiedergutmachung, diese superspezielle Ausnahme, zum Geburtstag und Weihnachten zusammen? Mit dreizehn, da war sich die Familie eigentlich einig, mit dreizehn könne man darüber reden. Der Computer sei ja die Zukunft, mit zwölf, das sei zu früh. Zu früh.

Stolz wäre Omas Umarmung ausgefallen, mit einem letzten Kuss, Mund auf Mund. Doch jetzt ersetzte verhaspeltes Aufzählen technischer Kennzahlen die Liebkosung – darauf ein Nicken – dann die mit ihr eingeübte Erkundigung nach der guten Anreise – darauf ein Nicken: Opa Hamburg sprach nicht mehr.

Sein Onkel dagegen faselte: dieser Schritt ins Leben, das erste Mal jemanden zu verlieren: ein Vorbote des eigenen Durchgereichtwerdens bis zur Kante: ja, auch des noch zauseligen Engels mit der weichen Haut. Darauf noch einen Schluck, ruckzuck.

Genau neunzehn Tage war es her. Den Kuchen hätte man damals besser selbstgemacht und vielleicht hätte man die Sauerländer doch einladen sollen. In seinem Kopf flirrten Schlagworte des Manuals wie Schlüssel zu einer neuen Welt, geöffnet samstags und werktags nach den Hausaufgaben. Die Frau seines Lebens, daran glaubte er fest, war nur kurz aus dem Bild getreten.

Noch vor drei Wochen wollte er sie einfach wiederbeleben, durch Mund-zu-Mund-Beatmung wie in seinem Ersthelferkurs oder sie verdammt nochmal wachküssen wie in dem Schneewittchen-Film, den er in den letzten Musikstunden vor den Ferien gesehen hatte. Doch jetzt schien es ihm am klügsten, er hätte ihr Bewusstsein gleich völlig körperlos in seinen Arbeitsspeicher übertragen, wie den Code, den er im Computerclub von Zeitschriften auf holzigem Recyclingpapier in den Schulcomputer abtippte. Und dann: RUN. Gleichförmig, alterslos, makellos. Und dann: SYNTAX ERROR.

Ist schon klar: ON / OFF, EINS oder NULL. Weder bei seinen Freunden noch auf dem Automaten in der Pommesbude hatte er bisher ein Spiel kennengelernt, in dem es so etwas gab: ein halbes Leben, ohne GAME OVER, ohne INSERT CREDIT TO CONTINUE. Nur in Hamburg flackerten die Bildschirme, drohten Freeze und Überhitzung: God Game. Und dann: Schwamm drüber. Sterbende sterben, Bestatter bestatten, Cracker cracken.

Nur im Puppenhaus seiner Schwester lag sie immer noch auf der ersten Etage, eigentlich die Freundin von Barbie, jetzt umsorgt von Niklas dem Hasen, Linda und den Heiligen drei Königen, die sie aus der Krippe im Hausflur ausborgte: Hier würden sie jetzt dringender gebraucht.

Bis in die Nacht wurde getrunken, ziellos, freudlos. Im Radio nach der Liturgie: „Life is Life“ und „An der Nordseeküste“. Omas Digitalwecker vom letzten Jahr stellte er auf 03:00 Uhr, schlief ein und träumte von den gigantischen Fingerhutstauden in ihrem Garten, ein paar Zombies und seinem Englischreferat nach den Ferien.

Dann schreckte ihn stilisiertes Maschinengewehrfeuer auf, sein Manual körperwarm in die schwitzige Handfläche gerollt. Nur im T-Shirt schlich er barfuß durch den gefliesten Flur in Richtung Wohnzimmer, aus dem ihm eine Mischung aus Ofenwärme und kaltem Rauch entgegenkam. Sie lagen noch dort, die bedruckten Kartons, in die er gestern schon reinluken durfte: das Manual lesen, das war auch unter dem Baum erlaubt. Ihm gingen die Augen über: in Pappe, in Styropor, in Folien: Monitor, Datasette, Peripherie: beige Gehäuse aus Plastik mit magischen Ein- und Ausgängen. Und daneben noch immer an der Tafel: Opa Hamburg.

Er sehnte sich nach dem Leben als ausgedehnte IF THEN-Routine, als schlüpfriges Textadventure oder als Abenteuerspielebuch: drei Optionen, weiter bei Seite 8, bei Seite 49 – oder zurück auf Start. Doch für das, was in drei Schritten hinter der spaltbreit geöffneten Tür auf ihn wartete, gab es kein Manual. Es war ein Open World-Game. Etwas für Spezialisten.

Jan-Paul Laarmann