Wenn Mittwochmittag die Schule zu Ende war, ging ich nicht nach Hause, sondern ich ging zu meiner Tante Helene, die zwar gar nicht meine Tante war, aber so genannt wurde. Dort saßen immer bereits ein paar weitere Tanten, die auch nicht meine Tanten waren, aber dennoch ebenfalls so genannt wurden. Meine Verwandtschaftsverhältnisse sind etwas kompliziert, daher lass ich das mal so stehen. Für mich waren das Tante Helene, Tante Ursula, Tante Grete und Oma Käthe, ohne dass ich ihre Titel je infrage gestellt hätte. Unnötig zu sagen, dass auch Oma Käthe nicht meine biologische Großmutter war, aber ich habe sie geliebt, und sie war meine Oma. Punkt. Sie war jedenfalls viel mehr meine Oma, als dass die anderen Frauen meine Tanten gewesen wären.
Mittwochnachmittag war immer schon beste Stimmung, wenn ich dort ankam. Es gab Kaffee und Kuchen, offenbar auch Sektchen und verschiedene Likörchen, denn die Gruppe war jedes Mal bereits extrem locker drauf. Es wurde viel gelacht, pikante Witze erzählt, die ich meist nicht verstand, und die alten Damen qualmten ordentlich was weg – Atika, Lord Extra und Menthol-Zigaretten. Mich hat der Rauch als Kind nie gestört, auch wenn ich stets in einen richtig dichten Nikotinnebel eintauchen musste, der, von heute aus betrachtet, Kindesmisshandlung oder Körperverletzung genannt würde. Aber ich mochte diese alten Frauen sehr gerne, und sie mochten mich. Und einmal mit allen zu knuddeln und sich die Haare verwuscheln zu lassen, schien ein passabler Preis zu sein für all die Vorzüge, die so ein Mittwoch zu bieten hatte. Ich wurde nämlich nach allen Regeln der Kunst verwöhnt. Heißer Kakao mit Sahne, Variationen süßester Leckereien sowie das Erfüllen spontaner Essenswünsche gehörten unter anderem zum Mittwochsrepertoire.
Damit war der Mittwoch eigentlich ein perfekter Tag, möchte man meinen, wäre da nicht der lange Weg durch eine ungute Gegend gewesen, mit all seinen dort lauernden Gefahren und vor allem einem älteren Schlägertypen namens Kai, der offenbar an jedem verfickten Mittwoch nichts Besseres zu tun hatte, als mir aufzulauern und mir Prügel anzudrohen. Er hat mich tatsächlich nie verprügelt, aber seine Gewaltfantasien wurden von ihm äußerst leidenschaftlich vorgetragen. Sie waren wirklich ausführlich und dabei sehr plastisch, sodass sie mir regelmäßig eine Scheißangst einjagten und damit den perfekten Mittwoch versauten.
Als meine Oma Käthe starb, war ihre Beerdigung an einem angemessen beschissenen Tag. Es war Mittwoch, es regnete in Strömen und auch ansonsten lief das Wasser. An der Ecke beim Pfarrer stand Kai. Er war Messdiener und verrichtete dort gerade seinen Dienst. Er beobachtete mich mit Argusaugen, verfolgte jeden meiner Schritte und sah zu, wie ich um meine geliebte Oma trauerte.
Ab jenem fürchterlichen Tag gab es für mich seltsamerweise keine Luxusmittwoche mehr, was ich nicht wirklich verstehe, da wir uns ja bei Tante Helene getroffen hatten. Meine Oma muss wohl so etwas wie der Kitt dieser lustigen kleinen Gruppe gewesen sein und ihr Austritt hatte die sofortige Auflösung zur Folge. Jedenfalls entfiel für mich dadurch der Mittwochsweg, und ich konnte von nun an diese Gegend meiden und damit meinem Erzfeind Kai aus dem Weg gehen.
Jahre später, als ich schon gar nicht mehr an die allwöchentlichen Drohungen dachte, lief ich vergnügt durch den Park und scherzte mit meinen Freunden. Da erkannte ich von weitem eine mir vertraute Person. Es war Kai. Er hatte mittlerweile die Pubertät durchlaufen und war dadurch noch ein paar Köpfe größer, als er es seinerzeit ohnehin schon gewesen war. Ich war völlig geschockt, ihn zu sehen. Innerhalb einer Sekunde kamen die schlimmsten aller Mittwochsgefühle wieder in mir hoch. Ich war panisch und malte mir aus, wie sehr sein Wunsch, mich zu schlagen, in der Zwischenzeit wohl angewachsen war, weil das Mittwochsventil seinen Zorn nicht regelmäßig dämpfen konnte.
Er kam auf mich zu und wollte mit mir alleine sprechen. Obwohl ich mir davon nichts Gutes versprach, folgte ich seinem Wunsch und trat mit ihm zur Seite, wo wir ungestört reden konnten. Ich war bereit, mir seine Gewaltfantasien anzuhören, da bemerkte ich die Veränderung in ihm. Er war ungewohnt schüchtern, hatte mich und meine Freunde sogar gegrüßt und war dabei für seine Verhältnisse fast nett. Er druckste herum, bis er endlich zu dem Punkt kam, der ihm im Kopf herumschwirrte, möglicherweise seit er mich vor Jahren zuletzt gesehen hatte.
Er sagte zu mir: „Deine Oma ist gestorben. Ich habe dich gesehen.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Du hast geweint.“ Das war alles, was er sagte. Danach wartete er. Es folgte keine Frage dazu. Es gab nur seine fragenden Augen und diese drei Sätze, die mir klar machten, dass ich nun ihren logischen Zusammenhang erläutern sollte. Kai hatte so etwas wie Verzweiflung in den Augen und wollte offenbar, dass ich ihm das Konzept der Trauer erkläre. Er verstand anscheinend nicht, was mich dazu gebracht haben könnte, bei der Beerdigung zu weinen.
Zum ersten Mal verspürte ich keine Angst vor ihm, sondern ich begann, ihn zu bemitleiden, weil er nicht in der Lage war, die enge Verbindung zu einem anderen Menschen zu erfassen. Vermutlich hatte er in seinem Leben eine solche nie gehabt. Ich erklärte ihm, dass ich meine Oma von Herzen gern gehabt hatte, dass sie mir sehr wichtig gewesen war und ich ihr. Wie sie sich um mich gekümmert, für mich gekocht, und den Wunsch gehabt hatte, dass ich ein gutes Leben führen würde. Er nickte und tat so, als ob er es verstanden hätte. Dann setzten wir uns auf eine Parkbank und rauchten wortlos Atika. Es war Mittwoch, doch für einen perfekten Mittwoch war noch Luft nach oben.
half past selber schuld