Mischpoke

Familienangelegenheiten

Material Boy

Endlich gehörte er dazu. Ein Spezialist.
Die Übriggebliebenen hatten gut gesammelt in diesem Jahr. Schon am Heiligen Abend versprach sein junger Besitz mitsamt des verheißungsvoll unverständlichen Manuals Zugehörigkeit.
Aber aufgebaut wird erst morgen früh!

War das also eine Art Wiedergutmachung, diese superspezielle Ausnahme, zum Geburtstag und Weihnachten zusammen? Mit dreizehn, da war sich die Familie eigentlich einig, mit dreizehn könne man darüber reden. Der Computer sei ja die Zukunft, mit zwölf, das sei zu früh. Zu früh.

Stolz wäre Omas Umarmung ausgefallen, mit einem letzten Kuss, Mund auf Mund. Doch jetzt ersetzte verhaspeltes Aufzählen technischer Kennzahlen die Liebkosung – darauf ein Nicken – dann die mit ihr eingeübte Erkundigung nach der guten Anreise – darauf ein Nicken: Opa Hamburg sprach nicht mehr.

Sein Onkel dagegen faselte: dieser Schritt ins Leben, das erste Mal jemanden zu verlieren: ein Vorbote des eigenen Durchgereichtwerdens bis zur Kante: ja, auch des noch zauseligen Engels mit der weichen Haut. Darauf noch einen Schluck, ruckzuck.

Genau neunzehn Tage war es her. Den Kuchen hätte man damals besser selbstgemacht und vielleicht hätte man die Sauerländer doch einladen sollen. In seinem Kopf flirrten Schlagworte des Manuals wie Schlüssel zu einer neuen Welt, geöffnet samstags und werktags nach den Hausaufgaben. Die Frau seines Lebens, daran glaubte er fest, war nur kurz aus dem Bild getreten.

Noch vor drei Wochen wollte er sie einfach wiederbeleben, durch Mund-zu-Mund-Beatmung wie in seinem Ersthelferkurs oder sie verdammt nochmal wachküssen wie in dem Schneewittchen-Film, den er in den letzten Musikstunden vor den Ferien gesehen hatte. Doch jetzt schien es ihm am klügsten, er hätte ihr Bewusstsein gleich völlig körperlos in seinen Arbeitsspeicher übertragen, wie den Code, den er im Computerclub von Zeitschriften auf holzigem Recyclingpapier in den Schulcomputer abtippte. Und dann: RUN. Gleichförmig, alterslos, makellos. Und dann: SYNTAX ERROR.

Ist schon klar: ON / OFF, EINS oder NULL. Weder bei seinen Freunden noch auf dem Automaten in der Pommesbude hatte er bisher ein Spiel kennengelernt, in dem es so etwas gab: ein halbes Leben, ohne GAME OVER, ohne INSERT CREDIT TO CONTINUE. Nur in Hamburg flackerten die Bildschirme, drohten Freeze und Überhitzung: God Game. Und dann: Schwamm drüber. Sterbende sterben, Bestatter bestatten, Cracker cracken.

Nur im Puppenhaus seiner Schwester lag sie immer noch auf der ersten Etage, eigentlich die Freundin von Barbie, jetzt umsorgt von Niklas dem Hasen, Linda und den Heiligen drei Königen, die sie aus der Krippe im Hausflur ausborgte: Hier würden sie jetzt dringender gebraucht.

Bis in die Nacht wurde getrunken, ziellos, freudlos. Im Radio nach der Liturgie: „Life is Life“ und „An der Nordseeküste“. Omas Digitalwecker vom letzten Jahr stellte er auf 03:00 Uhr, schlief ein und träumte von den gigantischen Fingerhutstauden in ihrem Garten, ein paar Zombies und seinem Englischreferat nach den Ferien.

Dann schreckte ihn stilisiertes Maschinengewehrfeuer auf, sein Manual körperwarm in die schwitzige Handfläche gerollt. Nur im T-Shirt schlich er barfuß durch den gefliesten Flur in Richtung Wohnzimmer, aus dem ihm eine Mischung aus Ofenwärme und kaltem Rauch entgegenkam. Sie lagen noch dort, die bedruckten Kartons, in die er gestern schon reinluken durfte: das Manual lesen, das war auch unter dem Baum erlaubt. Ihm gingen die Augen über: in Pappe, in Styropor, in Folien: Monitor, Datasette, Peripherie: beige Gehäuse aus Plastik mit magischen Ein- und Ausgängen. Und daneben noch immer an der Tafel: Opa Hamburg.

Er sehnte sich nach dem Leben als ausgedehnte IF THEN-Routine, als schlüpfriges Textadventure oder als Abenteuerspielebuch: drei Optionen, weiter bei Seite 8, bei Seite 49 – oder zurück auf Start. Doch für das, was in drei Schritten hinter der spaltbreit geöffneten Tür auf ihn wartete, gab es kein Manual. Es war ein Open World-Game. Etwas für Spezialisten.

Jan-Paul Laarmann

Samstag ist Waschtag

Weißt du noch, wie oft uns Mama das Bild des „Familienbadetags” geschildert hat? Einer nach dem anderen – ab in die Wanne, bis alle sauber waren und das Wasser eiskalt. Später wurde dann täglich geduscht und nur das Auto war samstags noch dran. Es war aber auch immer was zu tun. An der Windschutzscheibe klebten die Fliegen. „Ja, früher gab es wenigstens noch Fliegen!”
Ach, jetzt komm du doch nicht gleich wieder mit dem moralischen Zeigefinger. Jaja, ich weiß, natürlich waren wir verschwenderisch mit dem Wasser, aber so war das früher, das war die Zeit. Und man musste sich doch auch was gönnen und seinem Auto auch. Jeder in der Straße hat samstags das Auto gewaschen und es schick gemacht für den Wochenendausflug. Schick waren auch Papa und Opa. Opa, der uns immer an den alten Pfarrer aus dem Nachbardorf erinnerte mit seinem dunklen Jackett und seinem Barett, von Papa immer „Franzosenmütze“ genannt. Nach Frankreich führten unsere Ausflüge aber so gut wie nie, dafür in den nächsten Baumarkt oder auf den Mannheimer Maimarkt. Mannheim haben wir nie wirklich gesehen, stattdessen kannten wir die Verkaufsstände für Bauherren, Hobbygärtner und Küchenfeen in- und auswendig. Auf der Heimfahrt war nicht nur der Kofferraum, sondern auch die Rückbank voll und unterwegs haben wir Butterbrezeln und Landjäger gegessen. Ausflüge unternahmen wir immer mit dem Auto und es gab Brezeln und Würstchen. Wir wären nie auf die Idee gekommen, dass man auch Wandern oder Radfahren könnte.
Erst viele Jahre später, als Papa die autofreien Sonntage zu „Familienradfahrtagen” ernannte. Wir, raus aus den Betten, Rucksäcke gefüllt und ungeduscht auf die Räder. Herrlich, wie ungestört wir auf den breiten Straßen ohne Autos gefahren sind. Kilometerweit, radeln, fahren, schwatzen, träumen, essen. Bis dir die erste Fliege ins Auge geflogen ist. Vollbremsung, Notoperation, Tränen und Fluchen. „Ja, früher gab es noch Fliegen.”

Mal was anderes, kannst du dich an die blaue Jacke von Papa erinnern? Hast du dir die nicht immer heimlich aus dem Schrank geklaut? „Ich?! Quatsch, weiß nicht, vielleicht einmal? Wieso, wie kommst du da jetzt drauf?” Ich musste gerade daran denken. Manchmal war uns das Outfit von Papa ein bisschen peinlich mit den weißen Turnschuhen und der blauen Jacke. Später, als wir cooler waren, haben wir unsere zu kleinen Füße verflucht und konnten uns nur die Jacke oder das ein oder andere Hemd heimlich ausleihen. Und die Brille! Weißt du noch die Brille, die jahre- nein jahrzehntelang in der Schublade im Wohnzimmerschrank lag, bis dein Exfreund sie entdeckt und mitgenommen hat? Beim nächsten Besuch hatte er sich Gläser in das Gestell machen lassen und die Brille wiederbelebt. Der Blick von unseren Eltern war herrlich. Schade, dass wir damals kein Foto gemacht haben!
„Ich dachte, das Brillengestell war vom Flohmarkt?”
Vom Flohmarkt? Nee, da haben wir nur Klamotten gekauft. Weißt du noch die Adidas-Sportjacken? Du hattest eine braune. Die war super und hatte vielleicht drei Mark gekostet.
„Und die edle weiße!”
Oh ja, die hat dir doch dann der eine Typ einfach aus dem Schrank geklaut.
„Stimmt, aber beim Tocotronic-Konzert in der Mannheimer Feuerwache hatte ich die noch an.”
Das weiß ich jetzt nicht mehr so genau. Ich kann mich aber sehr gut an unsere lustigen selbstgemalten Tocotronic-Shirts erinnern, mit denen wir rumgerannt sind und die wir auch verschenkt haben: Samstag ist Selbstmord – das war das Beste, oder?

Christine Breitschopf

Opa und das Meer

Die Ehe meiner Großeltern mütterlicherseits war durch Divergenz geprägt. Beider Vorstellungen über ihre gemeinsame Zukunft gingen stark auseinander. Aber sie waren nicht die Generation, die sich trennte. Stattdessen lebten sie einfach weiter zusammen und liebten sich auf ihre Art. Dennoch hatten die Kinder und wir Kindeskinder das Gefühl, weiter auseinanderdriften und dabei in einer Wuppertaler Wohnung wohnen – das geht nicht. Bei all den Unterschieden, die diese Ehe zementierte, war aber auf eins Verlass: Wir Enkelkinder standen immer an erster Stelle. Und wie die Natur halt ihre Sympathien verteilt, bildeten sich enge Bindungen jeweils an Oma – oder an Opa.

Mein Opa wurde am 21. März 1926 geboren. Er lebte, typisch für seine Generation, ein bewegtes Leben. Bereits als 15-Jähriger heuerte er im Zweiten Weltkrieg auf Schiffen an, ab 1941 absolvierte er seine Ausbildung auf See in der Schiffsjungenschule als sogenannter Moses, vom Bedienungsjungen, Messejungen bis zum Steward. Meine Lieblingscousine und ich haben Opas alte Seefahrtenbücher, seinen Gehilfenbrief, Dienstzeugnisse, Ausweise, Personalkarten, historische Dokumente und Fotos oft nächtelang gewälzt und dabei versucht, uns vorzustellen, wie es ihm damals ergangen ist. Darüber gesprochen hat er nämlich nie. Nicht, wenn er uns frühmorgens in den Barmer Anlagen Radfahren beibrachte. Nicht, wenn er für uns kochte und auch mit zunehmendem Alter sein ohnehin schon reiches Repertoire in der Küche für meine Cousine um vegetarische Gerichte erweiterte. Nicht, wenn er mit uns den ganzen Tag spazieren ging, mit uns spielte und für uns da war. Und das war er, immer für uns Enkelkinder da. Opa konnte gut zuhören, war stets ruhig und freundlich. Niemals habe ich ihn schlecht über andere reden hören. Er liebte die Menschen, ihre Geschichten und Eigenarten. Die einen sagen, er war der toleranteste Mensch auf der ganzen Welt. Die anderen sagen, es hat ihn nicht wirklich interessiert, was die anderen dachten. Er nahm es einfach hin.

Zwei Dinge waren Opa wichtig: Dass immer genug zu essen da war, auch wenn spontan jemand zu Besuch kam. Kein Gast ging bei ihm je hungrig heim. Und: Opa liebte Weihnachten. Für das Weihnachtsfest mit allen Kindern und Enkelkindern kochte und briet er tagelang vor und berücksichtigte dabei sämtliche Lieblingsessen der unterschiedlichen Familienmitglieder. Dass die große Fischplatte stets auf dem Dielen-Spiegel der Garderobe serviert wurde, habe ich erst viel später realisiert. Von besonderer Anmut war auch der Baum, mit seinen dicken LED-Kerzen und dem dichten Engelshaar. Ein leuchtender spinnennetzartiger Engelshaarkringel um jede Kerze. Wir Urenkel mussten Weihnachten auf Fußschemeln Platz nehmen, weil stets mehr Gäste zugegen als Sitzgelegenheiten vorhanden waren.

Von 1941 bis 1944 ist Opa zur See gefahren. Er wurde zwei Mal von U-Booten angeschossen und ist mit den Schiffen untergegangen, hat alles verloren, ist beim letzten Beschuss in Südamerika gestrandet. Nach dem Krieg hat er sich von dort aus nach Hamburg und zu Fuß weiter in seine Heimatstadt Ahlen durchgeschlagen. Das sind die wenigen Details, die verschiedene Familienmitglieder über sein Leben zusammengetragen haben. Und nicht alle Teile passen auf der Zeitachse nahtlos zueinander. Nach dem Krieg arbeitete Opa als Steward für die Amerikaner und brachte sich, seine Eltern und seinen Bruder zusätzlich mit Lebensmittelkarten und Zigarettenschmuggel durch. Auf dem Schwarzmarkt am Bahnhof in Ahlen lernte er 1946 meine Oma kennen. Sie sollte Zigaretten für ihren Vater kaufen und verpasste ihren Zug, weil mein Opa ihr gegenüber seinen Charme spielen ließ. So kam es, dass Oma statt zurück eine Nacht bei Opas Eltern verbringen musste und erst am Tag darauf zurück nach Wuppertal reisen konnte. In dieser einen Nacht, in diesen wenigen Stunden in Ahlen haben sich meine Großeltern ineinander verliebt. Denn auch vor ehelicher Divergenz steht anfangs immer erst die Liebe.

Als meine Großeltern am 1. August 1947 heirateten, war Oma bereits im vierten Monat schwanger mit meiner Tante. Später gebar sie drei weitere Kinder, blieb aber mit ihnen oft allein, weil Opa die Sommermonate an der Nordsee weilte. Ab 1960 arbeitete er jede Saison als Chefkellner in einem großen Familienhotel auf der Insel Juist. Er wollte immer dem Meer nahe sein, vielleicht weil es ihn an seine Jugend erinnerte. Jahr für Jahr verbrachte er die komplette Saison, etwa vier bis fünf Monate, auf der Insel. Natürlich haben wir ihn häufig während der Sommerferien auf der Insel besucht. Die Liebe zu Juist wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Unsere Tochter fährt bereits in der fünften Generation auf die Insel, meine Cousine lebt seit 2014 auf der schönsten Sandbank der Welt.

So wie unser Opa nicht mit uns über den Krieg sprach, so zeigte er uns auch nicht sein kleines Reich, in dem er die Sommer über auf engem Raum lebte. Nur ein einziges Mal machte er für mich eine Ausnahme – und nahm mich mit in sein Zimmer. Es war jener Sommer, in dem ich, gerade 14, als Zimmermädchen in Opas Hotel jobbte – und ich war sehr stolz. Das Zimmer war eine typische Bedienstetenkammer. Sehr klein und sehr spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle. Mehr nicht. Bis heute habe ich, was Unterkünfte angeht, einen Hang zum Minimalistischen: Bett, Tisch, Couch optional – reicht mir.
Einmal habe ich mir als junge Frau ein Herz gefasst und Opa gebeten, etwas über den Krieg zu erzählen, über seine Zeit auf See. Auch wollte ich von ihm hören, wie er Oma kennengelernt hat. Mich interessierte seine Sicht auf die Dinge und das Leben sehr. Zu meiner Überraschung hat er eingewilligt. Gemeinsam mit meiner Lieblingstante und ihrem Jüngsten spazierten wir durch die Wuppertaler Wälder und kehrten schließlich in ein Gasthaus ein. Mein Cousin war in dem Alter, in dem Kinder ununterbrochen reden. Ununterbrochen. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her, beteiligte mich am Plappern und am Ende des Tages verkündete mein Opa, jetzt sei es aber spät und er habe eine wichtige Lektion für uns: Es sei immer wichtiger, den Kindern zuzuhören. Immer. Ich habe danach nie wieder nach seinen Kriegserlebnissen gefragt. Vielleicht muss Vergangenes manchmal einfach ruhen.

Meine Schwester und meine Cousine sind acht Jahre jünger als ich. Auch ihnen hat mein Opa Radfahren beigebracht. Insbesondere zu meiner Cousine und ihrem jüngeren Bruder hatte er ein inniges Verhältnis, sie wohnten alle zusammen im Haus meiner Großeltern in Wuppertal, in verschiedenen Wohnungen. Wenn Opa auf Juist frei hatte, einmal die Woche, war er den ganzen Tag mit den Enkelkindern am Strand. Auch in seiner täglichen Mittagspause hat er immer versucht, das zu ermöglichen. Wenn er nicht mit uns am Strand war, waren wir Kinder häufig zum Mittagessen in seinem Hotel zu Gast. Wir bewunderten Opa, wenn er immer freundlich und lächelnd und akkurat in Bewegung und Eleganz die Gäste bediente – und ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich machte. 50 Jahre lang hat Opa als Oberkellner gearbeitet, stets im gleichen Hotel. Auch im hohen Alter fuhr er noch vom Asthma geplagt mit seinem Sauerstoffgerät mit dem Zug von Wuppertal nach Norddeich Mole, um dem Meer nah zu sein. Gestorben ist er in Wuppertal, im Sommer 2011 fand Oma ihn tot neben seinem Bett. Er war erstickt.

Das Unbeschwerte, die Leichtigkeit, die Schönheit, der Spaß, die seiner eigenen Jugend abgingen, hat er uns gegenüber stets verbreitet. Wie es ihm während der Kriegsjahre ergangen ist, darüber hat er nie gesprochen. Lieber stand er lächelnd am Strand. Am Meer. Auf der Insel, die er so liebte: auf Juist.

Jasmin Schemann

Bärbel

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als wir uns kennenlernten. Eigentlich kannte ich sie schon vorher, aber mehr aus Erzählungen. Bärbel war die Tochter des zweiten Mannes meiner Tante, also quasi meine Cousine. Wir waren uns vor vielen Jahren schon einmal begegnet, bei einem Geburtstag oder einer Taufe oder so, aber meine Tante wohnte weit weg von uns in einer Großstadt und wir trafen sie und ihre Familie nur selten und dann meist ohne ihren neuen Mann und seine Tochter. Meine Eltern mochten ihn nicht sonderlich. Meine Tante hatte meinen Onkel verlassen wegen ihm. „Der Neue“ nannte meine Mutter ihn zunächst etwas verächtlich.
Und über Bärbel sagte sie einmal in einem Nebensatz mit hochgezogener Stimme „Fastverwandtschaft“. Meine Eltern luden diese Fastverwandtschaft damals nie ein.

Doch an diesem Tag war der Geburtstag meiner Großmutter und es hatte friedlich und freundlich und festlich zu sein. Meine Mutter hatte mir extra etwas Vornehmes rausgelegt. Wie ich das hasste! Ich hatte gar keine Lust, dorthin zu gehen. Aber ich musste natürlich. Und fügte mich. Natürlich.

Es war an dem Abend eigentlich alles so wie immer auf diesen Feiern, die üblichen Mitbringsel, die Lieblingsblumen und der „gute“ Wein. Es wurden die gleichen Geschichten erzählt und die gleichen Fragen mit den gleichen Redewendungen beantwortet. Der große Tisch war fein gedeckt und es roch nach der üblichen Speisenfolge: klare Suppe mit gestocktem Ei vorweg, dann Braten mit Salzkartoffeln und Böhnchen und zum Nachtisch Kompott.

Und doch war etwas anders als bei den letzten Festen. Meine Tante und ihr Mann waren da. Und Bärbel. Sie war ungefähr so alt wie ich, aber wirkte so viel erwachsener. Ich weiß noch, dass ich mich in dem Augenblick, als ich sie sah, wie ein kleiner Junge gefühlt habe, fein rausgeputzt von seiner Mama, der artigste Bub des Dorfes. Aber immerhin sollte ich nicht mehr am Kindertisch sitzen. Ich saß heute am Tisch mit den Großen. Und Bärbel saß neben mir. Sie schien im ersten Moment etwas unsicher mir gegenüber. Ich glaube, meine Eltern hatten sie bei ihrer Ankunft eher ignoriert. Aber Bärbel war sehr offen und freundlich, sie begrüßte alle anderen herzlich und suchte Kontakt. Schon während der Suppe hatte sie mich dann in ein Gespräch verwickelt. „Eigentlich ja Barbara, aber alle sagen Bärbel…“. Sie erzählte von sich, ihrem Zuhause und der Stadt, in der sie lebte, ihren Freunden und Freundinnen, ihren Zielen und Träumen. Und ihren Idealen. Gebannt hörte ich ihr zu. Sie sprach von mir völlig unbekannten Dingen und auch ihre Art zu denken war mir völlig fremd. Sie behandelte mich wie ein ernstzunehmendes Gegenüber. Es war eine echte Unterhaltung. Und auf einmal waren der Tisch mit der gestärkten Tischdecke, der Braten und die Böhnchen, die Bilder mit den Jagdszenen an den Wänden, die schneeweißen Gardinen aus Spitze und die Menschen um mich herum unbedeutend. Es war, als würden die Fenster aufgestoßen und als würde ich hinausgedrängt werden aus meiner Welt, die mir plötzlich so klein erschien und auf einmal peinlich war. Die Krawatte, das Jackett, der Raum wurden zu eng, denn es war etwas bei den Großeltern ins Wohnzimmer gerauscht. Bärbel hatte es in einem Geschenkpaket dorthin gebracht und schaute mir vergnügt dabei zu, wie ich es auspackte.

Es war ihre Offenheit.
Ihre Aufgeschlossenheit.
Und ihre Neugier.
Neugier, selbst auf so einen Langeweiler wie mich.
Das kannte ich nicht von hier und von uns.
Wir waren skeptisch.
Aber sie war einfach unvoreingenommen.
Ich war überwältigt.

Alle anderen kümmerten sich indes nur um Großmutter. Jetzt fällt mir wieder ein, dass es ihr 75. Geburtstag war. Sie ließen sie hochleben und es gab Reden und zig Anekdoten. Meine Mutter lief währenddessen zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her und trug allen auf. „Noch etwas?“ und „Hast du das schon probiert?“. Und mein Vater holte noch mehr Wein aus dem Keller, den „guten“, und kündigte auch schon ein Schnäpschen für später an. Und alle blickten froh und gütig zu meiner Großmutter und lauschten ihren Geschichten. Und meine Großeltern blickten beide froh und gütig auf ihre Lieben.

Bärbel und ich genossen es, die Unbeachteten zu sein. So nannten wir uns an diesem Abend und auch noch später: die Unbeachteten. Lange und ohne Pause, ohne Kompott und ohne Schnäpschen und unbehelligt von den anderen Familienmitgliedern und den Strömungen und Klimaverschiebungen zwischen ihnen sprachen wir über die Welt, über alles, was war und was kommen würde oder könnte und natürlich über uns. Ich fühlte mich sehr wohl.

Aber der Abend ging dann doch mit etwas Krach zu Ende. Eines der Kinder hatte Zank mit einem der anderen Kinder, ein Onkel hatte zu viel getrunken und die Hochsteckfrisur einer Tante war an einer Kerze in Flammen aufgegangen. Mein Vater hatte mit einem Glas Weißwein gelöscht, dem guten. Doch die Frisur und das Geburtstagsfest lösten sich jetzt auf. Und es war auch schon spät geworden. Bärbel und ihre Eltern fuhren leider etwas übereilt. Wir verabschiedeten uns hastig, aber sehr herzlich und mit der Gewissheit, dass wir uns gefunden hatten. Für mich war sie echte Verwandtschaft.

In den Jahren danach schrieben wir uns oft. Sie schickte mir Bücher, später auch Schallplatten und vor allem lange Briefe mit ihrem Blick auf die Welt. Sie brachte etwas Leben in mein Leben. Und ich gab ihr vielleicht etwas Halt in dem Familienkosmos, in den sie da hineingeraten war. Später kamen Briefe und Fotos von ihr aus Südamerika, Indien und sogar Australien. Und erst sehr viel später wurde es dann immer weniger und hörte auf, als wie selber beide eigene Familien hatten.

Ich denke manchmal an sie und an diesen Abend. Es gibt viele Fotos von dem Geburtstagsfest. Sie wirken seltsam auf mich. Meine Eltern so jung. Meine Großeltern noch am Leben. Ihre alte Wohnung in dem Haus, das mittlerweile abgerissen ist. Es gibt auch ein Bild von Bärbel und mir. Das ist am seltsamsten. Ich habe viele Jahre als Journalist bei einer großen Tageszeitung gearbeitet. Dort habe ich mir angewöhnt, Fotos in den Verlauf ihrer Stories einzuordnen. Es gab Fotos, auf denen eine Geschichte zu beginnen scheint, die in diesem einen magischen Moment des Anfangs gemacht wurden. Und es gab Fotos, die das Ende einer Geschichte erzählten. Alles, was passierte, ist vorher, das Bild illustriert das Ergebnis. Und dann gab es noch die Bilder der Zwischenzeit. Die Fotoredakteure mochten sie nicht so gern, denn sie erzählten dem Leser weniger, sagten sie. Ich aber fand sie stets am faszinierendsten.

Normalerweise gelingt mir die Fixierung eines Fotos auf einer solchen Zeitachse intuitiv und schnell. Doch bei dem Bild von Bärbel und mir ist es anders. Hier endet alles, hier beginnt alles und auch die Zwischenzeit ist eingefangen und abgebildet. Es erzählt mir etwas über meine Familie — aus einer weit entfernten Vergangenheit bis heute. Vieles hat sich verändert seitdem und nichts. Und ich sehe einen jungen Mann, für den alles möglich ist.

Heute ist mein 75. Geburtstag. Alle meine Lieben sind gekommen, um mit mir zu feiern,
Familie, Freunde, ehemalige Arbeitskollegen. Mein Sohn hat mich mit einem Album überrascht, zusammengestellt aus alten Familienfotos. Bilder von Urlauben am Meer und Fernreisen mit den schönen Autos der damaligen Zeit. Fotos von den Familienfeiern und von Personen, die schon lange nicht mehr leben. Von tollen Menschen, die ich liebe und liebte. Bilder von glücklichen Momenten und Bilder von kleinen Kümmernissen. Bilder, auf die die großen Geschichten unserer Familie folgten. Bilder, deren Geschichten mit ihnen abgeschlossen waren. Und dieses eine Bild von Bärbel und mir. Niemand weiß, was es mir bedeutet.
Unsere Freundschaft blieb weiterhin von allen unbeachtet. Jetzt ist dieses Foto hier vor mir, eingeklebt und datiert im Familienalbum mit den anderen Fotos der Verwandtschaft.
Es ist eingeordnet. Jetzt weiß ich, wo es hingehört.

Ich blicke aus dem Album hoch in die Gesichter meiner Familie und Freunde und
trinke ein Glas guten Wein auf sie. Alle Augen sind auf mich gerichtet.

Doch hinten, fast am Ende des Tisches und von den anderen scheinbar ganz außer Acht gelassen, unterhält sich einer meiner Enkel angeregt mit der Enkeltochter eines guten Freundes.
Sie sind so vertieft ineinander, sie merken nicht einmal, dass ich sie beobachte.
Er trägt ein weißes Hemd mit Krawatte und sie einen dunklen Pullover über einer Bluse mit einem Kragen aus Blütenblättern, sehr elegant.

Kann mal bitte jemand unbemerkt ein Foto von ihnen machen?

Tom Blankenberg

Brummbär Klaus und die Wege der Pusteblume

„Können Sie mich…. Frau… Moos?“

Löwenzahnsamen schweben schwerelos in der Luft herum, getragen vom warmen und zarten Wind eines sommerlichen Nachmittags. Zaghaft geben die Äste ein Spiel von Schatten und Sonne auf dem kühlenden Gras der Wiese im Volksgarten. Zwischen den Blättern glitzert die Sonne hindurch und kitzelt sie an der Nase. Alles ist wie in einem schwerelosen Raum, in dem die Zeit wie in einer Wachslampe langsam umherwabert. Sie spürt, wie sich auf ihrem warmen Gesicht erste Sommersprossen bilden, mit jeder Berührung eines Sonnenstrahls auf ihrer Haut. Alles ist so hell, blass und unscharf. Nur die Löwenzahnsamen sind freigestellt und entfesseln ein weiches Bokeh in ihre Welt. Vom Wind getragen, mal hierhin, mal dorthin – aber egal, wo sie landen werden, ihr Schicksal wird sich erfüllen. Wer macht den Wind, Mama?

„Lassen Sie sich Zeit, es kann sich sehr eigenartig anfühlen … Können Sie mich verstehen? Frau Moos?“

So weit weg. Alles klingt so weit weg. Irgendwo spielen Kinder, es schnattern Gänse, ein Hund bellt, Schritte auf Sand und Kieselsteinen. Sie streckt sich auf der Wiese und lässt ihre Handflächen auf dem Gras umherschweben, sodass nur die Spitzen der Grashalme ihre Haut wie kleine Blitze berühren, sie kitzeln und ihre Lebenslinien entlangfahren. Langsam lässt sie ihre Hände ganz ins Gras sinken und spürt, wie jeder einzelne Halm aus der Bahn ihrer Linien rutscht und zwischen ihren Fingern entlangstreicht. Der Tag wird heller und nimmt ihr die Sicht. Details verschwimmen in grellem Weiß, wie auf einem überbelichteten Foto.

„Sie sind in Sicherheit… Lassen Sie sich alle Zeit der Welt. Sie haben Zeit.“

Schatz? Wo hast du denn deine Socken gelassen? Wir müssen gleich los! Wie ein milder Schleier legen sich die Wolken vor das Licht und zerstreuen es in die Welt – Bienen schwirren schwer bepackt mit ihren Pollen umher und kreuzen ihren Blick. Sie streckt ihren Kopf über, die Welt ist umgekippt. Brummbär Klaus sitzt noch in seinem Campingstuhl und arbeitet an seiner Maschine. Emma mag, dass er so struppig ist, das lässt ihn etwas verwegen aussehen. Klaus macht sich nicht so viel aus seinem Äußeren. Ich habe Besseres zu tun, denn Zeit ist knapp. Er neigt ihr kurz seinen Kopf zu, zwinkert mit einem Lächeln, das allerdings nur noch auf einer Seite funktioniert und widmet sich anschließend wieder seinem Projekt. Er guckt zwar etwas grimmig, wenn er sich konzentriert, aber tatsächlich grimmig ist er nie. Vor allem nicht zu ihr. Ich pass auf dich auf! Ich suche die Formel, okay?!

„Frau Moos. Schildern Sie mir bitte, was sie gerade sehen.“

Ein Licht, das ihre Pupille abtastet. Klaus und der Park sind irgendwie verschwunden. Nur noch Pollen in der Luft. Unscharf fliegen sie umher. Ganz so, als wenn sie ihre Augen zukneift und auf eine Lichterkette schaut. Die Blende ist weit geöffnet, es gibt aber kein Motiv. Wo ist Klaus? Hat er es etwa geschafft? Ein Lichtpunkt wabert vor ihr umher, sie hört ihn etwas sagen.

„Sehen Sie mich?“

Die Stimme klingt freundlich. Aber wo genau mag sie wohl herkommen? Der Lichtpunkt ist mal etwas heller, mal etwas dunkler. Der Punkt hat leichte Strahlen um sich herum, wie der Schirm eines Löwenzahnsamens. Drumherum flackern jetzt Sterne auf, als wären sie schon immer da gewesen. Sie will nicht hier sein. Es fühlt sich alles an, wie zu früh geweckt worden zu sein. Sie schläft einfach wieder ein.

Emma?! Kannst du bitte die Kinder ins eShuttle bringen? Sie sucht noch nach Klaus. Auf seinem Stuhl sitzt er nicht mehr. Er scheint auch seinen Apparat mitgenommen zu haben. Hat er sich etwa schon wieder einfach so aus dem Staub gemacht oder sich den Kindern angeschlossen? Mama, Klaus ist schon im Auto, kommst du jetzt? Sie steigt ein.

„Bleiben Sie bei mir, Frau Moos. Was ist Ihre letzte Erinnerung?“

Er saß tatsächlich schon im Auto und starrte sie fassungslos mit seinen runden Knopfaugen an. Tja, da hat sie wohl kurz getrödelt. Er mag es gar nicht, wenn sie trödelt, nahm sie aber natürlich trotzdem direkt freudig in den Arm. Er duftet nach Zuhause. Wie Papa, wenn er sie nach der Arbeit hochhebt und in seine Arme schließt – etwas muffig, aber irgendwie gut. Warum ist sie plötzlich wieder so klein? Schatz, träumst du schon wieder vor dich hin?

„Ich verstehe. Bitte erschrecken Sie nicht, wenn ich Ihnen erkläre, wo sie jetzt wieder sind.“

Emma mag ihren Sitz – So schön hoch und sie kann besser aus dem Fenster gucken. Aber vor allem, weil sie dann Klaus auf den Kopf gucken konnte. Während er konzentriert weiterarbeitete, pustete sie ihm auf den Kopf, zwischen die Ohren. Pustekanone nannte sie das. Er merkte es gar nicht mal bewusst, aber seine Ohren zuckten und er knutterte kurz auf.

„Frau Moos, ich hole Sie jetzt zurück zu uns.“

Sie will nicht. Was redet dieser helle Lichtpunkt denn jetzt?

„Sie befinden sich im Aufwachraum des Institut Columbia Metaverse für Unsterbliche …“

Sie liebt den Duft hinter seinen Ohren. Während ihr Gesicht an seinen bärtigen Wangen entlangstreicht, um ihm einen Kuss auf den Hals kurz hinter seinen Ohren zu geben. Da könnte sie ewig verweilen. Niemals hätte sie gedacht, dass er ihre Familie, ihre Welt wird.

„Sie sind ein weißer Zwerg.“

Als sie neben ihm saß und auf ihre Hände blickte, offenbarte sich eine alte Wüste voller Erinnerungen. Nicht leer, aber voller Leben.

„Sie hatten sich entschieden, eine neue Geschichte zu leben. Diese ist nun vorüber. Das Institut wurde für Sie erschaffen, um …“

Emma wickelte gerade eine Schleife um das Geschenk. Es war ein rotes Band aus Samt, das um ihre Finger strich. Ihr Mann kam mit einem Lächeln auf sie zu und …

„Die Ewigkeit ist erträglicher, wenn wir Ihnen wiederkehrende Geschichten präsentieren, die so immersiv sind, als wären Sie tatsächlich dabei gewesen …“

Ein neues Leben, eine neue Welt voller Geschichten. Sie begriff mittlerweile, dass sie im Prozess der Entkoppelung war. Sie versteht jetzt. Die Welt ist wieder ganz still, sie schwebt als leuchtender Punkt im Raum. Versatzstücke von den prägendsten Erinnerungen ziehen sich noch als Emotionen um ihre Photonen herum, zerstreuen sich aber zügig im Vakuum des Alls.

„Es freut mich, dass Sie zurück sind. Ich hoffe, Sie bald wieder bei uns begrüßen zu dürfen.“

Sie schließt die astralen Augen und genießt die letzten Züge der noch aufflackernden Erinnerungen, während sie wie ein Samenkorn eines Löwenzahns im unendlichen Raum des Universums schwebt. Was Brummbär Klaus jetzt wohl gerade macht?

Rafik Halabi

Das Leben zu seinen bedingungen

Zwischen meinem achten und fünfzehnten Lebensjahr hat mich mein Vater viele Male mitgenommen nach Griechenland. Er hat dort einsame Inseln angesteuert, die wir damals mit Postschiffen oder kleinen Passagiermaschinen erreichten. Auf dem Festland waren wir manchmal auch mit dem Wohnwagen unterwegs. Vater suchte Plätze, die vom Tourismus noch verschont waren, denn er wollte ungestört Aquarelle von Land und Leuten malen. Es war abends auf einer dieser Reisen, als er mich beiseite nahm, und mir sagte, ich solle einmal in den Himmel schauen. Ich tat es, und wie immer auf diesen Reisen war der Himmel von einem leuchtenden Dunkelblau und übersät mit zahllosen Sternen. Es waren weit mehr, als ich es von Deutschland her kannte. Das Band der Sterne wölbte sich über uns und mehrfach in der Minute konnte man Sternschnuppen und andere Bewegungen in der Höhe sehen.
Ich kann mich an nur wenige Ereignisse aus meiner Kindheit erinnern, aber dieser Moment mit meinem Vater ist mir in Erinnerung geblieben. Ich denke, es war ein prägendes Erlebnis, denn seither habe ich häufig in meinem Leben Dinge, die ich nicht verstand oder als leidvoll empfand, durch die Zuwendung zur Natur hin relativieren können. Der gewaltige Himmel, die Sterne, der Wind, das weite Land, die Bäume, all diese sind mir Zuflucht und Ratgeber geworden.

Kurioserweise habe ich trotzdem immer in Städten gelebt und bin im Grunde völlig denaturiert, esse beispielsweise Fleisch, aber habe nie ein Tier geschlachtet oder zerlegt, ja wüsste gar nicht, wie das geht. Ich habe von Gemüse- oder Obstanbau nicht die geringste Ahnung. Ebenso wenig weiß ich vom Bau einer Hütte, könnte wahrscheinlich kaum überleben in der Natur. Trotzdem ist mir die Natur, solange ich denken kann, vertrauter als die Welt der Menschen. Irgendwie erlebte ich die Menschen nie als der Natur zugehörig. Falls sie mal dazugehörten, haben sie sich weit davon entfernt. Sie hielten sich immer schon für die Krone der Schöpfung. In ihrer grenzenlosen Egozentrik und Anmaßung erheben sie sich ständig über alles und jeden. Wir sind groteske, grausame Wesen. Wir glauben, wir wären frei, zu tun und zu lassen, was immer uns beliebt, ohne je die Konsequenzen tragen zu müssen. Das ist ein Irrtum.

Je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, dass wir alle nur innerhalb enger Grenzen wirklich frei sind, und dass uns oft nur das widerstandslose Akzeptieren dessen bleibt, was sich als unabänderlich erweist. Erst danach öffnen sich neue Türen, die über unser begrenztes Bild der Realität hinausführen und uns zu einem Frieden mit uns selbst und anderen bringen – und zwar nicht zu unseren Bedingungen.

„Wenn du in deinem Leben mal Probleme oder irgendwelche Schwierigkeiten hast, dann schau ab und zu mal da hoch“, sagte mein Vater und legte dabei den Arm um mich, „angesichts dieser Weiten und Dimensionen ist all das, was wir hier unten für groß, wichtig oder dramatisch halten, nur ein Stäubchen.“

Darin, so weiß ich heute, liegt manchmal ein großer Trost, eine Gnade, die uns sowohl Demut und Dankbarkeit fühlen lässt, als auch unsere Schmerzen lindert. Die uns auf unseren Platz verweist. Die uns berührt, wenn wir uns berühren lassen. Denn obwohl wir so inständig leben, lieben, leiden und zerstören unter diesem gewaltigen blauen Gewölbe sind wir, wie Hermann Hesse einst so schön sagte, doch alle nur für einen kurzen Besuch zu Gast. Und das ist gut so.

Philipp Schiemann

Tante Erikas Entscheidung

Der erste Eindruck der schier endlos verglasten Spitzbogenfenster muss unglaublich gewesen sein. Man kann heute noch ahnen, wie den Besuchern der Atem geraubt wurde, betrat man diese zerklüfteten menschgemachten Meteoriten, die in eine bis dahin sehr schlichte und niedrige Stadt eingeschlagen waren. Das war kein Raum, den man vorher kannte. Das waren doch keine Wände, sondern eher ein geheimnisvoller Wald aus Stein und Glas und der Blick wurde unmittelbar nach oben gerissen. Die generationenlange Kraftanstrengung von Tausenden beim Bau, die Knechtung einer bitterarmen Gesellschaft zur Finanzierung traten in den Hintergrund. Diese Höhe, diese lichtdurchfluteten üppigen Fenster, die unvergleichliche Raumerfahrung machten alles vergessen.

Azurblaue Fensterflächen, nur getrennt durch die schwarzen Linien der Bleieinfassungen, das war nicht der gemeinsame Himmel von draußen, das war eine Verheißung. Rot kannte man nur von der Kleidung gekrönter Häupter, aber nun schillerte es so intensiv, dass es auf der eigenen armen Haut reflektierte. Gelb, gleißend und doch so seltsam entrückt wurde zu flüssigem Gold, was sich über alle, ja alle, ergoss. Und das Grün erschien nicht mehr natürlich oder irdisch, weil es alles Vergängliche hinter sich gelassen hatte. Hielt man sich länger in dieser übernatürlichen Halle auf, gerieten die Lichtspiele auch noch in Bewegung. Wolken zogen draußen vorbei und drinnen verbanden sich hunderte flackernde Kerzen mit Schwaden von Weihrauch zu einer grandiosen Inszenierung, zu einem spätmittelalterliches Gefühlskino. Wahnsinn.

Aber die intellektuellen Architekten hinter den Gebäuden und damit die Konstrukteure einer ganzen Gesellschaft, hatten noch anderes im Sinn. Warum nicht dieses großartige Lichtkino dazu benutzen, die eingeschüchterten Betrachter zu beeinflussen. Dem Volk also beizubringen, was ihrer Meinung nach richtig, was aber auch ganz falsch war. Bilder wirkten immer schon besser als tausend Worte. So ließen sie die großen verglasten Wände Geschichten erzählen. Natürlich nur ihre eigenen Geschichten, die ihre Weltsicht begründeten. Es entstanden großartige Kunstwerke. Sie waren bevölkert mit Bildern von Menschen, aber auch all den übermenschlichen Wesen, die notwendig waren, um noch die absurdesten Gedanken zu begründen. Engel, Dämonen, Geister, prachtvoll illustriert und grandios gestaltet in eindrücklichen Metaphern, die auch die einfachsten Gemüter packten. Auf den Fenstern prangten die Erzählungen von den ewigen Fleischtöpfen eines Paradieses und dem steinigen Weg dorthin. Von Opfern, die von jenen gebracht wurden, die nun heilig genannt wurden und deren Leiden und Sterben Vorbild zu sein hatte für alle Lebenden. Eingetaucht in die zauberhafte Farbigkeit der Fenster schien das alles überzeugend und auch begehrenswert. Ganz sicher, da musste doch irgendwann etwas kommen, mit dem alle belohnt wurden, wenn man sich vorher nur an die Regeln hielt.

Also hieß es, die strikten Konventionen einzuhalten, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, ja, sich schon dafür zu bestrafen, wenn man nur an sie dachte. Im Leben alles aushalten und die vom großen System zugewiesene Rolle einnehmen. Selbst wenn dies persönliche Verleugnung und große Schmerzen bedeutete. Sollte das Gefühl aufflackern, dass man eigentlich anders sein wollte oder anders war, hieß das jetzt Sünde und war schlichtweg zu unterdrücken. Aber dann, irgendwann, sollte das Glück kommen. Später. Und wie schön dieses Später angepriesen wurde. Eine große, glückliche, heilige Familie im Paradies.
Wahnsinn.

Nun, dieser ganze Farbenzauber mit eingebauter Lebensanweisung funktionierte blendend und wurde als Ideal über viele Jahrhunderte, Generation über Generation, weitergegeben. Was die Konstrukteure dieses Systems allerdings nicht ahnten: Dass an jenem Abend in geselliger Runde, das Essen war üppig und Heinz schon besoffen, Tante Erika entschied, diesen Scheiß nicht mehr mitzumachen.

Volker Hermes

Mount Everest

„Der Mount Everest“ rief er, als wir bei Tische waren, „der Mount Everest“ rief er, als wir vor dem Fernseher saßen, „der Mount Everest“ rief er immerzu, das wäre ein Berg, den man doch erklimmen müsse, einmal wenigstens im Leben und dann könne man ja wieder runter. So rief es Onkel Danni, mit der Alpinistik sonst weiter nichts am Hut, aber der Mount Everest, der hatte es ihm angetan. Der hatte einen Klang, wie ihn sonst nur wenige Dinge haben auf der Welt: Moby Dick zum Beispiel, der heilige Gral oder auch das goldene Vlies, all jene Sehnsuchtsziele also, denen sich seit Jahrhunderten schon die Menschen – vor allem aber doch Männer – verschrieben hatten, so auch Onkel Danni. Seit ich ihn kannte, also seit immer schon, ließ er nicht locker mit diesem Berg, da Onkel Danni nun mal ein Sturkopf war, renitent von Kopf bis Fuß, ein geborener Querulant. Ärger hatte er deshalb schon zu allen Zeiten und an allen Orten gehabt, nicht zuletzt natürlich in der Liebe – fünf mal hatte er ja gesagt und fünf mal auch wieder nein.

Aber Visionen hatte er, der Onkel Danni, und das war in diesem Landstrich durchaus eine Seltenheit. Er träumte von diesem und jenem, von nun wirklich allerlei, aber die Vision mit dem Berg, dem Mount Everest, die war bei Weitem seine größte und auch, durchaus, schwachsinnigste. Worin sein Drang zum Abenteuer begründet lag, darüber konnte nur gemutmaßt werden und wild spekuliert, schließlich war diese Familie, die auch meine Familie war, nicht bekannt für Eskapaden und Kapriolen. Im Gegenteil: Unser Stammbaum war seit Generationen eine Ansammlung von Duckmäusern und Leisetretern gewesen, so gern ich sie auch, mitunter, hatte. „Sonderling“ hieß es also oft bei den Feiern und den Anlässen, beim Umtrunk und in der Kirche, ein „Sonderling“ wäre er, der Onkel Danni, an sich ganz nett, aber garantiert meschugge. Nur zu mir hatte er, der Onkel Danni, einen guten Draht und ich zu ihm und so zwinkerten wir uns zu, hier und da, oder nickten uns zu, in der stillen Übereinkunft, dass WIR doch aus gänzlich anderem Holze wären als DIE. So waren wir im Geheimen Verbündete – verabredet zu einer Mission, deren Ziel wir selbst nicht kannten. Als Hauptsache galt: nieder mit der Tristesse! Nieder mit der Provinz! Darauf zwei Schnaps und drei Olé, wie es hier so Usus war, in diesen Breitengraden, wo die einzige Gefahr es war, vor lauter Langeweile den Tod zu finden.

Es war also ein Tag wie jeder andere Tag, ein Tag, der nichts außer bloß gewöhnlich war, an dem ich Onkel Danni, warum auch immer, eine Reise vorschlug und ich sagte Reise, als ginge es über weite Meere oder durch die Tropen – und nicht bloß ein paar Kilometer weit der Nase nach. Onkel Danni, der nicht recht verstand, dem aber alles Unbekannte Ansporn war, rief „Los geht’s“ ohne auch nur kurz zu zögern und so besiegelten wir, mit einem Handschlag und drei Olé, unseren Deal. Jede Reise allerdings, darin stimmten wir beide überein, braucht auch einen Tross, eine Entourage, die Wasser trägt und in die Gegend schaut und so versammelten sich mit uns: ein Kollege, von dem Onkel Danni häufig sprach, wobei mir en détail schleierhaft war, was sie beruflich verband, dazu seine Zieh-Tochter, die Unvermeidliche, welche die Sache mit den Manieren noch zu lernen hatte, und zuletzt die Grande Dame de la Famille, deren Namen nichts zur Sache tut, die zwar reich geboren war, ihr Geld aber auch schnell wieder verloren hatte. Insgesamt also ein wahlloser Trupp, der sich sicher nie wieder so versammeln würde. Was diese Leute antrieb, sich mit uns auf den Weg zu machen, erschloss sich mir nicht bis ins Letzte, sicherlich aber trug das Gefühl von Aufbruch und Tatendrang, das Onkel Danni und ich zweifellos verbreiteten, einen entscheidenden Teil dazu bei.

Als Ziel unserer Expedition hatte ich den Toten Mann auserkoren, der der höchste Gipfel im Umkreis war und dessen Namen eigentlich alles über diese Gegend sagte. Schnee lag meterdick, was für April ungewöhnlich war, aber das Ambiente von Abenteuer nur verstärkte. Während des Aufstiegs sangen wir weder Lieder noch führten wir Gespräche. Stoisch und schweigend gingen wir Meter für Meter voran, bis wir nach zwei Stunden oder dreien auf dem Gipfel waren, wo es windig war und kalt. So recht wollte uns allerdings nicht einleuchten, was hier oben jetzt zu tun war. Über uns der weite Himmel, unter uns das sinnlose Dorf, aus dem wir kamen. Wir hatten es gewagt und die da unten nicht. Das immerhin ist doch was, das ist doch nicht nichts. Ich machte ein Foto, aber niemand schaute in die Kamera. Onkel Danni, sagte ich, das war doch zumindest ein Anfang. Der Mount Everest war es zwar nicht, aber der wird auch in ein paar Jahren noch an Ort und Stelle stehen. Und schließlich ist auch Abenteuer etwas, wie so viele Dinge im Leben, das man üben muss und nicht einfach von Geburt an kann. Onkel Danni aber sagte nichts und starrte in die Ferne, dorthin, wo die Winde peitschten.

Felix Krakau

Groß und Braun

Groß war er, ausgewachsen. Und braun.
Wo kam er her, was machte er hier?
Jetzt stand er vor ihm.
So etwas hatte er noch nie gesehen in dem Land, in dem er gestrandet war.
Er war irritiert.
Und auch die anderen um sie herum blieben stehen, einige reckten die Hälse, um ihn besser sehen zu können, diesen Fremdkörper.
Einsam sah er aus.
Jetzt musste er wieder an seine eigene Familie denken.
Er hatte sie alle zurückgelassen, fernab der Zivilisation, in den Wäldern.
Die Mutter, den Vater, seine Geschwister.
Nur selten verirrte sich einer von ihnen in die Stadt.
Die Hektik, der Lärm, die vielen Menschen und überall gab es Müll und Dreck.
Alles quoll über vor Angebot an unnützen Waren.
Es gab keine klaren Flüsse, keine saubere Luft, denn die Natur war den Städtern egal.
Die echte Natur. Nicht diese gebaute, zurechtgerückte, aufgehübschte und angelegte Natur.

Er verspürte ein Kratzen im Hals bei dem Gedanken. Der Staub hier schnürte ihm die Kehle zu.
Er hustete, es hallte laut über die Straße.
Jetzt blickten sie alle zu ihm.
Und dort stand er nun inmitten einer Stadt, sichtbar und ungeschützt.
Eine Attraktion.
Davor hatte ihn seine Mutter immer bewahren wollen. Sie hatte ihn angefleht, die Stadt und die Menschen zu meiden. Ihnen aus dem Weg zu gehen.
Denn die Menschen waren hungrig nach dem Ungewohnten, lechzten danach, sich über Andere zu stellen, sich auf Kosten Anderer in ein vermeintlich helleres Licht zu rücken.
Jeder war davon überzeugt, besser zu sein, über dem Anderen zu stehen. Toleranz war für sie ein fremdes Wort. Feindselig waren sie.
Dabei tat er doch niemandem etwas. Er war ganz friedlich. Er war einfach nur nicht wie sie.
Doch sie kannten ihn eben nicht.
Niemand kannte ihn hier.
Er hatte bisher in den Wäldern gelebt. Versteckt und abgeschirmt. Bei seiner Familie.
Ein Schoß, ein Ort, eine Welt aus Sicherheit, Geborgenheit, ein Zuhause. Dort wurde er verstanden. Sicherlich, es gab gelegentlich Streit. Es waren nicht immer alle einer Meinung. Manchmal musste eben gebrüllt werden. Aber alles ließ sich klären, denn alles gründete sich auf dem Vertrauen zueinander. Eine innige Verbundenheit über Generationen hinweg.
Sie alle fehlten ihm jetzt. Überhaupt schien alles weit, weit weg.
Warum war er jetzt an diesem Ort, in dieser Stadt? Was hatte ihn hierher geführt?
Warum hatte er nur seiner Neugier nachgeben müssen und seinem Entdeckergeist?
Würde er hier sein Ende finden? Vielleicht durch einen kräftigen Hieb, der ihn zu Boden streckte. Hier und jetzt auf diesem Gehweg?
Er blickte sich noch einmal um.
Grau, betoniert, gepflastert, staubig, zugebaut.
Gebäude versperrten den Blick in den Himmel. Keine Weite, kein Horizont. Und dieser Lärm. Autos hupten, Musik drang auf die Straßen. Aus jeder Ecke unterschiedlich, lautes Reden, Brüllen. Und es stank nach Müll, nach Abgasen und nach zu vielen Menschen in ihren Polyesteranzügen, billiges Aftershave hing in der Luft.
Die Sonne brannte unerbittlich. Es war heiß. Kein Fluss, an dem er sich kühlen konnte, keine Baumgruppe, unter der er Unterschlupf und ein bisschen Schatten finden konnte.
Doch hier herrschte eine solche Orientierungslosigkeit.
Das war nicht die Unabhängigkeit und Freiheit, nach der er sich gesehnt hatte.

Seine Mutter hatte ihm von der Stadt erzählt, sie hasste sie.
Sie hatte in der Stadt zu viele Verletzungen erfahren. Vor allem, als er selber noch ein Kind war. Sie war geflohen vor der Gemeinschaft und ihren Gemeinheiten.
Sie hatte ihr Kind beschützen wollen vor den gehässigen Blicken und den Rufen der anderen. „Mondmann!“, „Flachkopf!“ und „Trommelgesicht!“.
Die so riefen, machten sich gar nicht die Mühe, den Menschen dahinter zu sehen.
Die Seele und auch den Schmerz, den sie auslösten mit jedem „Flachkopf“.
Es reichte ihnen, dass er anders aussah.
Seine Gesichtskonturen waren fast nicht vorhanden, sein Kopf war eine Scheibe.
Eine blasse, helle Scheibe. In der Farbe des Mondes.
Das war alles, das war der Unterschied.
Er hatte Sinne, konnte schmecken, riechen, sich verständlich machen. Lachen. Lieben.
Doch die vorlauten Kinder und die abgestumpften Erwachsenen sahen nur den Mond.
Vielleicht sollte er dort nach seinem Glück suchen. Der Mond schien ihm ein Ort, der Horizont, Weite und Ruhe versprach.
Und vor allem war er weit weg von dieser Stadt.

Jetzt war er mit einem mal wieder hier.
Und in diesem Augenblick stand plötzlich dieser Bär vor ihm.
Groß und braun.
Bewegungslos verharrte er eine Zeit lang.
Sie blickten einander an.
Vielleicht war dieses zottelige Wesen hier genauso einsam wie er selbst.

Cornelia Greef

Plastiktüten

Sag mal
wie war das nochmal
mit den Plastiktüten?

frage ich meine Mutter am Telefon

Na neidisch waren wir
wenn mal jemand
mit einer Plastiktüte
in die Schule kam

Häh wie jetzt
als Schultasche?
und da hat dann das ganze
Schulzeugs reingepasst?

Ja klar
wir hatten sonst auch nur
so’ne einfache Tasche in der Hand
aus Kunstleder oder
diesem falschen Jeans-Stoff

da war’ne Plastiktüte
von der West-Verwandtschaft
schon was Besonderes

mit Werbung drauf
vom Hertie-Kaufhaus
oder von Zigarettenmarken
wie HB

am besten war Marlboro
das war die große weite Welt

und die wurde dann getragen
bis sie auseinanderfiel
und man die Werbung
nicht mehr erkennen konnte

also in der Freizeit dann
denn in der Schule
kam immer ganz schnell der Direktor rein
und wer ’ne Tüte trug
musste sie für den Rest des Tages umdrehen
so dass die Werbung innen war

Ja krass

sage ich

und später hatten wir dann
die ganze Flurschublade voll
da flog einem immer gleich
alles entgegen

apropos

hast du zufällig noch ’ne Aldi-Tüte?

’Ne Aldi-Tüte
nee, wieso?

In einem Podcast haben sie erzählt
dass die Aldi-Nord-Tüte von einem Künstler
gestaltet wurde

und wenn man sich die
ein bisschen umknickt und aufhängt
hat man ein echtes Multiple
von Günter Fruhtrunk an der Wand

das Ding ist
dass Aldi-Nord die Plastiktüten
wohl nicht mehr verkauft
und wir haben hier ja
nur Aldi-Süd

Ich guck gleich mal
ob ich nicht doch noch eine hab

und ansonsten
frag ich mal Simone
oder Andrea
oder die Nachbarn hier
irgendwer
hat bestimmt noch eine

Carina Grode