Straßenlaternen schauen devot auf brüchigen Asphalt. Gras wächst und verdorrt zu beiden Seiten, lässt mal Gänseblümchen und mal Krokusse sprießen. Wenn ihnen nicht die Sonne genommen wird. Werde ich gefragt, ich werde eigentlich nie danach gefragt, würde jedoch mal jemand fragen, könnte ich gar nicht so viel erzählen. Eventuell von einer Mischung aus Aufregung und Abschiedsschmerz in einer unguten aufreibenden Dosierung. Diese pulsierende, näher kommende und nicht zu steuernde Ahnungslosigkeit, der ich mit kindlicher Leichtigkeit entgegenzutreten versuchte. Klappte aber nicht immer. Staute es sich doch an, dieses wage Gefühl von Veränderung.
Ich erinnere windstille Sommertage, wir sitzen, das nahende Loslassen im Nacken, auf unserer Steinterrasse. Eine Ruhe überall, Schneckenspuren hinterlassen silbrige Muster. Plüschige Hummeln tummeln sich in Glockenblumen. Auf der Schattenseite hinterm Haus baumelt eine Schaukel zwischen Garage und Häuserwand, schmale Beete mit duftenden Erdbeeren, zwei Hasenställe und Tomatensträucher. Seitlich entlang der Hecke wechseln sich Apfelbäume mit Stachel- und Brombeerstauden ab. Von der Birke aus kann ich aufs Dach vom Spielhaus klettern, wenn die Holz-Luke aufgeklappt ist, spaziere ich von dort geradewegs hinein. In der Hecke gibt es ein kleines Loch, in das ich mich oft hineinsetze, ich verschwinde dann förmlich in den Blättern, kann aber alles sehen und hören, mein Kater mag es dort auch. Wie lange kann man einen geliebten Kater kraulen, bis es genug ist, man sich getrost für immer von ihm verabschieden kann? Ich bin immer wieder zurück, habe ihn noch ewige letzte Male gestreichelt, bis wir davonfuhren. Ich hing an der Rückscheibe unseres Trabis und sah ihm so lange nach, bis wir in die Straße bogen. Er konnte ja nicht mit. Als er wenige Jahre später im Pool eines Nachbarn ertrank, habe ich geweint wie nie zuvor. Unser Haus blieb ein Phantom. Belebte Steine, bewohnte Wände, gepflanzte Wege, bearbeitetes Holz, geliebte Gefährten der ersten Lebensjahre.
Überall waren kleine bunte Aufkleber von meinen Eltern angebracht worden, auf jedem Buch, jeder Schallplatte, all unseren Möbeln, alles wurde fein säuberlich gelistet. Wir haben alles mitgenommen. Empfangsgeschenke in Form von Kaffeepulver-Proben, Doppelstockbetten im Auffanglager, quietschbunte Supermärkte und viel zu viele Menschen in Schlangen. Auf die ersten Wochen in diesem nach Trollen riechenden fremden Land, geprägt von diesem ganz bestimmten Gummi-Spielzeug-Geruch, habe ich kaum noch Zugriff.
Die Grenze passierten wir nur einmal, kurz nach dem Mauerfall, ich musste noch im westlichen Teil der Stadt ausharren, während die Erwachsenen hinter dem Kontrollhäuschen verschwanden. Irgendwann kamen alle wieder, freudig nervös, und dennoch war mir durchgehend unwohl. Ich habe mir nie ein Mauer-Souvenir gekauft, fand es befremdlich, wenn Klassenkameraden damit prahlten oder betreten dreinschauten mit ihren bunten Steinchen in der Hand. Beides nervte mich. Am Tag des Mauerfalls weinten alle. Nur ich nicht. Mir war das zu viel Geschichte, fühlte mich zu nah dran an dieser Zeitenwende. Ich war sehr glücklich, dass es meine Familie wieder zusammenbrachte und das einstige Verabschieden für immer, endlich aufweichte. Ich war zwar klein, wusste aber insgeheim um die Bedeutung dieses historischen Umbruchs.
Jahre später haben wir noch immer einen Bogen um unser Haus gemacht, ich besonders, Papa auch. Wenn jeder Stein von deinen Eltern und Großeltern getragen und verputzt, der Garten liebevoll angelegt, die Architektur selbst entworfen und die Kindheit eine besonders schöne war – dann schmiegt sich eine Mauer der Erinnerung um diesen Ort und lässt ihn niemals los.
Luise Weigert