„Können Sie mich…. Frau… Moos?“
Löwenzahnsamen schweben schwerelos in der Luft herum, getragen vom warmen und zarten Wind eines sommerlichen Nachmittags. Zaghaft geben die Äste ein Spiel von Schatten und Sonne auf dem kühlenden Gras der Wiese im Volksgarten. Zwischen den Blättern glitzert die Sonne hindurch und kitzelt sie an der Nase. Alles ist wie in einem schwerelosen Raum, in dem die Zeit wie in einer Wachslampe langsam umherwabert. Sie spürt, wie sich auf ihrem warmen Gesicht erste Sommersprossen bilden, mit jeder Berührung eines Sonnenstrahls auf ihrer Haut. Alles ist so hell, blass und unscharf. Nur die Löwenzahnsamen sind freigestellt und entfesseln ein weiches Bokeh in ihre Welt. Vom Wind getragen, mal hierhin, mal dorthin – aber egal, wo sie landen werden, ihr Schicksal wird sich erfüllen. Wer macht den Wind, Mama?
„Lassen Sie sich Zeit, es kann sich sehr eigenartig anfühlen … Können Sie mich verstehen? Frau Moos?“
So weit weg. Alles klingt so weit weg. Irgendwo spielen Kinder, es schnattern Gänse, ein Hund bellt, Schritte auf Sand und Kieselsteinen. Sie streckt sich auf der Wiese und lässt ihre Handflächen auf dem Gras umherschweben, sodass nur die Spitzen der Grashalme ihre Haut wie kleine Blitze berühren, sie kitzeln und ihre Lebenslinien entlangfahren. Langsam lässt sie ihre Hände ganz ins Gras sinken und spürt, wie jeder einzelne Halm aus der Bahn ihrer Linien rutscht und zwischen ihren Fingern entlangstreicht. Der Tag wird heller und nimmt ihr die Sicht. Details verschwimmen in grellem Weiß, wie auf einem überbelichteten Foto.
„Sie sind in Sicherheit… Lassen Sie sich alle Zeit der Welt. Sie haben Zeit.“
Schatz? Wo hast du denn deine Socken gelassen? Wir müssen gleich los! Wie ein milder Schleier legen sich die Wolken vor das Licht und zerstreuen es in die Welt – Bienen schwirren schwer bepackt mit ihren Pollen umher und kreuzen ihren Blick. Sie streckt ihren Kopf über, die Welt ist umgekippt. Brummbär Klaus sitzt noch in seinem Campingstuhl und arbeitet an seiner Maschine. Emma mag, dass er so struppig ist, das lässt ihn etwas verwegen aussehen. Klaus macht sich nicht so viel aus seinem Äußeren. Ich habe Besseres zu tun, denn Zeit ist knapp. Er neigt ihr kurz seinen Kopf zu, zwinkert mit einem Lächeln, das allerdings nur noch auf einer Seite funktioniert und widmet sich anschließend wieder seinem Projekt. Er guckt zwar etwas grimmig, wenn er sich konzentriert, aber tatsächlich grimmig ist er nie. Vor allem nicht zu ihr. Ich pass auf dich auf! Ich suche die Formel, okay?!
„Frau Moos. Schildern Sie mir bitte, was sie gerade sehen.“
Ein Licht, das ihre Pupille abtastet. Klaus und der Park sind irgendwie verschwunden. Nur noch Pollen in der Luft. Unscharf fliegen sie umher. Ganz so, als wenn sie ihre Augen zukneift und auf eine Lichterkette schaut. Die Blende ist weit geöffnet, es gibt aber kein Motiv. Wo ist Klaus? Hat er es etwa geschafft? Ein Lichtpunkt wabert vor ihr umher, sie hört ihn etwas sagen.
„Sehen Sie mich?“
Die Stimme klingt freundlich. Aber wo genau mag sie wohl herkommen? Der Lichtpunkt ist mal etwas heller, mal etwas dunkler. Der Punkt hat leichte Strahlen um sich herum, wie der Schirm eines Löwenzahnsamens. Drumherum flackern jetzt Sterne auf, als wären sie schon immer da gewesen. Sie will nicht hier sein. Es fühlt sich alles an, wie zu früh geweckt worden zu sein. Sie schläft einfach wieder ein.
Emma?! Kannst du bitte die Kinder ins eShuttle bringen? Sie sucht noch nach Klaus. Auf seinem Stuhl sitzt er nicht mehr. Er scheint auch seinen Apparat mitgenommen zu haben. Hat er sich etwa schon wieder einfach so aus dem Staub gemacht oder sich den Kindern angeschlossen? Mama, Klaus ist schon im Auto, kommst du jetzt? Sie steigt ein.
„Bleiben Sie bei mir, Frau Moos. Was ist Ihre letzte Erinnerung?“
Er saß tatsächlich schon im Auto und starrte sie fassungslos mit seinen runden Knopfaugen an. Tja, da hat sie wohl kurz getrödelt. Er mag es gar nicht, wenn sie trödelt, nahm sie aber natürlich trotzdem direkt freudig in den Arm. Er duftet nach Zuhause. Wie Papa, wenn er sie nach der Arbeit hochhebt und in seine Arme schließt – etwas muffig, aber irgendwie gut. Warum ist sie plötzlich wieder so klein? Schatz, träumst du schon wieder vor dich hin?
„Ich verstehe. Bitte erschrecken Sie nicht, wenn ich Ihnen erkläre, wo sie jetzt wieder sind.“
Emma mag ihren Sitz – So schön hoch und sie kann besser aus dem Fenster gucken. Aber vor allem, weil sie dann Klaus auf den Kopf gucken konnte. Während er konzentriert weiterarbeitete, pustete sie ihm auf den Kopf, zwischen die Ohren. Pustekanone nannte sie das. Er merkte es gar nicht mal bewusst, aber seine Ohren zuckten und er knutterte kurz auf.
„Frau Moos, ich hole Sie jetzt zurück zu uns.“
Sie will nicht. Was redet dieser helle Lichtpunkt denn jetzt?
„Sie befinden sich im Aufwachraum des Institut Columbia Metaverse für Unsterbliche …“
Sie liebt den Duft hinter seinen Ohren. Während ihr Gesicht an seinen bärtigen Wangen entlangstreicht, um ihm einen Kuss auf den Hals kurz hinter seinen Ohren zu geben. Da könnte sie ewig verweilen. Niemals hätte sie gedacht, dass er ihre Familie, ihre Welt wird.
„Sie sind ein weißer Zwerg.“
Als sie neben ihm saß und auf ihre Hände blickte, offenbarte sich eine alte Wüste voller Erinnerungen. Nicht leer, aber voller Leben.
„Sie hatten sich entschieden, eine neue Geschichte zu leben. Diese ist nun vorüber. Das Institut wurde für Sie erschaffen, um …“
Emma wickelte gerade eine Schleife um das Geschenk. Es war ein rotes Band aus Samt, das um ihre Finger strich. Ihr Mann kam mit einem Lächeln auf sie zu und …
„Die Ewigkeit ist erträglicher, wenn wir Ihnen wiederkehrende Geschichten präsentieren, die so immersiv sind, als wären Sie tatsächlich dabei gewesen …“
Ein neues Leben, eine neue Welt voller Geschichten. Sie begriff mittlerweile, dass sie im Prozess der Entkoppelung war. Sie versteht jetzt. Die Welt ist wieder ganz still, sie schwebt als leuchtender Punkt im Raum. Versatzstücke von den prägendsten Erinnerungen ziehen sich noch als Emotionen um ihre Photonen herum, zerstreuen sich aber zügig im Vakuum des Alls.
„Es freut mich, dass Sie zurück sind. Ich hoffe, Sie bald wieder bei uns begrüßen zu dürfen.“
Sie schließt die astralen Augen und genießt die letzten Züge der noch aufflackernden Erinnerungen, während sie wie ein Samenkorn eines Löwenzahns im unendlichen Raum des Universums schwebt. Was Brummbär Klaus jetzt wohl gerade macht?
Rafik Halabi