Familienangelegenheiten

Tante Erikas Entscheidung

Der erste Eindruck der schier endlos verglasten Spitzbogenfenster muss unglaublich gewesen sein. Man kann heute noch ahnen, wie den Besuchern der Atem geraubt wurde, betrat man diese zerklüfteten menschgemachten Meteoriten, die in eine bis dahin sehr schlichte und niedrige Stadt eingeschlagen waren. Das war kein Raum, den man vorher kannte. Das waren doch keine Wände, sondern eher ein geheimnisvoller Wald aus Stein und Glas und der Blick wurde unmittelbar nach oben gerissen. Die generationenlange Kraftanstrengung von Tausenden beim Bau, die Knechtung einer bitterarmen Gesellschaft zur Finanzierung traten in den Hintergrund. Diese Höhe, diese lichtdurchfluteten üppigen Fenster, die unvergleichliche Raumerfahrung machten alles vergessen.

Azurblaue Fensterflächen, nur getrennt durch die schwarzen Linien der Bleieinfassungen, das war nicht der gemeinsame Himmel von draußen, das war eine Verheißung. Rot kannte man nur von der Kleidung gekrönter Häupter, aber nun schillerte es so intensiv, dass es auf der eigenen armen Haut reflektierte. Gelb, gleißend und doch so seltsam entrückt wurde zu flüssigem Gold, was sich über alle, ja alle, ergoss. Und das Grün erschien nicht mehr natürlich oder irdisch, weil es alles Vergängliche hinter sich gelassen hatte. Hielt man sich länger in dieser übernatürlichen Halle auf, gerieten die Lichtspiele auch noch in Bewegung. Wolken zogen draußen vorbei und drinnen verbanden sich hunderte flackernde Kerzen mit Schwaden von Weihrauch zu einer grandiosen Inszenierung, zu einem spätmittelalterliches Gefühlskino. Wahnsinn.

Aber die intellektuellen Architekten hinter den Gebäuden und damit die Konstrukteure einer ganzen Gesellschaft, hatten noch anderes im Sinn. Warum nicht dieses großartige Lichtkino dazu benutzen, die eingeschüchterten Betrachter zu beeinflussen. Dem Volk also beizubringen, was ihrer Meinung nach richtig, was aber auch ganz falsch war. Bilder wirkten immer schon besser als tausend Worte. So ließen sie die großen verglasten Wände Geschichten erzählen. Natürlich nur ihre eigenen Geschichten, die ihre Weltsicht begründeten. Es entstanden großartige Kunstwerke. Sie waren bevölkert mit Bildern von Menschen, aber auch all den übermenschlichen Wesen, die notwendig waren, um noch die absurdesten Gedanken zu begründen. Engel, Dämonen, Geister, prachtvoll illustriert und grandios gestaltet in eindrücklichen Metaphern, die auch die einfachsten Gemüter packten. Auf den Fenstern prangten die Erzählungen von den ewigen Fleischtöpfen eines Paradieses und dem steinigen Weg dorthin. Von Opfern, die von jenen gebracht wurden, die nun heilig genannt wurden und deren Leiden und Sterben Vorbild zu sein hatte für alle Lebenden. Eingetaucht in die zauberhafte Farbigkeit der Fenster schien das alles überzeugend und auch begehrenswert. Ganz sicher, da musste doch irgendwann etwas kommen, mit dem alle belohnt wurden, wenn man sich vorher nur an die Regeln hielt.

Also hieß es, die strikten Konventionen einzuhalten, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, ja, sich schon dafür zu bestrafen, wenn man nur an sie dachte. Im Leben alles aushalten und die vom großen System zugewiesene Rolle einnehmen. Selbst wenn dies persönliche Verleugnung und große Schmerzen bedeutete. Sollte das Gefühl aufflackern, dass man eigentlich anders sein wollte oder anders war, hieß das jetzt Sünde und war schlichtweg zu unterdrücken. Aber dann, irgendwann, sollte das Glück kommen. Später. Und wie schön dieses Später angepriesen wurde. Eine große, glückliche, heilige Familie im Paradies.
Wahnsinn.

Nun, dieser ganze Farbenzauber mit eingebauter Lebensanweisung funktionierte blendend und wurde als Ideal über viele Jahrhunderte, Generation über Generation, weitergegeben. Was die Konstrukteure dieses Systems allerdings nicht ahnten: Dass an jenem Abend in geselliger Runde, das Essen war üppig und Heinz schon besoffen, Tante Erika entschied, diesen Scheiß nicht mehr mitzumachen.

Volker Hermes