„Der Mount Everest“ rief er, als wir bei Tische waren, „der Mount Everest“ rief er, als wir vor dem Fernseher saßen, „der Mount Everest“ rief er immerzu, das wäre ein Berg, den man doch erklimmen müsse, einmal wenigstens im Leben und dann könne man ja wieder runter. So rief es Onkel Danni, mit der Alpinistik sonst weiter nichts am Hut, aber der Mount Everest, der hatte es ihm angetan. Der hatte einen Klang, wie ihn sonst nur wenige Dinge haben auf der Welt: Moby Dick zum Beispiel, der heilige Gral oder auch das goldene Vlies, all jene Sehnsuchtsziele also, denen sich seit Jahrhunderten schon die Menschen – vor allem aber doch Männer – verschrieben hatten, so auch Onkel Danni. Seit ich ihn kannte, also seit immer schon, ließ er nicht locker mit diesem Berg, da Onkel Danni nun mal ein Sturkopf war, renitent von Kopf bis Fuß, ein geborener Querulant. Ärger hatte er deshalb schon zu allen Zeiten und an allen Orten gehabt, nicht zuletzt natürlich in der Liebe – fünf mal hatte er ja gesagt und fünf mal auch wieder nein.

Aber Visionen hatte er, der Onkel Danni, und das war in diesem Landstrich durchaus eine Seltenheit. Er träumte von diesem und jenem, von nun wirklich allerlei, aber die Vision mit dem Berg, dem Mount Everest, die war bei Weitem seine größte und auch, durchaus, schwachsinnigste. Worin sein Drang zum Abenteuer begründet lag, darüber konnte nur gemutmaßt werden und wild spekuliert, schließlich war diese Familie, die auch meine Familie war, nicht bekannt für Eskapaden und Kapriolen. Im Gegenteil: Unser Stammbaum war seit Generationen eine Ansammlung von Duckmäusern und Leisetretern gewesen, so gern ich sie auch, mitunter, hatte. „Sonderling“ hieß es also oft bei den Feiern und den Anlässen, beim Umtrunk und in der Kirche, ein „Sonderling“ wäre er, der Onkel Danni, an sich ganz nett, aber garantiert meschugge. Nur zu mir hatte er, der Onkel Danni, einen guten Draht und ich zu ihm und so zwinkerten wir uns zu, hier und da, oder nickten uns zu, in der stillen Übereinkunft, dass WIR doch aus gänzlich anderem Holze wären als DIE. So waren wir im Geheimen Verbündete – verabredet zu einer Mission, deren Ziel wir selbst nicht kannten. Als Hauptsache galt: nieder mit der Tristesse! Nieder mit der Provinz! Darauf zwei Schnaps und drei Olé, wie es hier so Usus war, in diesen Breitengraden, wo die einzige Gefahr es war, vor lauter Langeweile den Tod zu finden.

Es war also ein Tag wie jeder andere Tag, ein Tag, der nichts außer bloß gewöhnlich war, an dem ich Onkel Danni, warum auch immer, eine Reise vorschlug und ich sagte Reise, als ginge es über weite Meere oder durch die Tropen – und nicht bloß ein paar Kilometer weit der Nase nach. Onkel Danni, der nicht recht verstand, dem aber alles Unbekannte Ansporn war, rief „Los geht’s“ ohne auch nur kurz zu zögern und so besiegelten wir, mit einem Handschlag und drei Olé, unseren Deal. Jede Reise allerdings, darin stimmten wir beide überein, braucht auch einen Tross, eine Entourage, die Wasser trägt und in die Gegend schaut und so versammelten sich mit uns: ein Kollege, von dem Onkel Danni häufig sprach, wobei mir en détail schleierhaft war, was sie beruflich verband, dazu seine Zieh-Tochter, die Unvermeidliche, welche die Sache mit den Manieren noch zu lernen hatte, und zuletzt die Grande Dame de la Famille, deren Namen nichts zur Sache tut, die zwar reich geboren war, ihr Geld aber auch schnell wieder verloren hatte. Insgesamt also ein wahlloser Trupp, der sich sicher nie wieder so versammeln würde. Was diese Leute antrieb, sich mit uns auf den Weg zu machen, erschloss sich mir nicht bis ins Letzte, sicherlich aber trug das Gefühl von Aufbruch und Tatendrang, das Onkel Danni und ich zweifellos verbreiteten, einen entscheidenden Teil dazu bei.

Als Ziel unserer Expedition hatte ich den Toten Mann auserkoren, der der höchste Gipfel im Umkreis war und dessen Namen eigentlich alles über diese Gegend sagte. Schnee lag meterdick, was für April ungewöhnlich war, aber das Ambiente von Abenteuer nur verstärkte. Während des Aufstiegs sangen wir weder Lieder noch führten wir Gespräche. Stoisch und schweigend gingen wir Meter für Meter voran, bis wir nach zwei Stunden oder dreien auf dem Gipfel waren, wo es windig war und kalt. So recht wollte uns allerdings nicht einleuchten, was hier oben jetzt zu tun war. Über uns der weite Himmel, unter uns das sinnlose Dorf, aus dem wir kamen. Wir hatten es gewagt und die da unten nicht. Das immerhin ist doch was, das ist doch nicht nichts. Ich machte ein Foto, aber niemand schaute in die Kamera. Onkel Danni, sagte ich, das war doch zumindest ein Anfang. Der Mount Everest war es zwar nicht, aber der wird auch in ein paar Jahren noch an Ort und Stelle stehen. Und schließlich ist auch Abenteuer etwas, wie so viele Dinge im Leben, das man üben muss und nicht einfach von Geburt an kann. Onkel Danni aber sagte nichts und starrte in die Ferne, dorthin, wo die Winde peitschten.

Felix Krakau