Groß war er, ausgewachsen. Und braun.
Wo kam er her, was machte er hier?
Jetzt stand er vor ihm.
So etwas hatte er noch nie gesehen in dem Land, in dem er gestrandet war.
Er war irritiert.
Und auch die anderen um sie herum blieben stehen, einige reckten die Hälse, um ihn besser sehen zu können, diesen Fremdkörper.
Einsam sah er aus.
Jetzt musste er wieder an seine eigene Familie denken.
Er hatte sie alle zurückgelassen, fernab der Zivilisation, in den Wäldern.
Die Mutter, den Vater, seine Geschwister.
Nur selten verirrte sich einer von ihnen in die Stadt.
Die Hektik, der Lärm, die vielen Menschen und überall gab es Müll und Dreck.
Alles quoll über vor Angebot an unnützen Waren.
Es gab keine klaren Flüsse, keine saubere Luft, denn die Natur war den Städtern egal.
Die echte Natur. Nicht diese gebaute, zurechtgerückte, aufgehübschte und angelegte Natur.

Er verspürte ein Kratzen im Hals bei dem Gedanken. Der Staub hier schnürte ihm die Kehle zu.
Er hustete, es hallte laut über die Straße.
Jetzt blickten sie alle zu ihm.
Und dort stand er nun inmitten einer Stadt, sichtbar und ungeschützt.
Eine Attraktion.
Davor hatte ihn seine Mutter immer bewahren wollen. Sie hatte ihn angefleht, die Stadt und die Menschen zu meiden. Ihnen aus dem Weg zu gehen.
Denn die Menschen waren hungrig nach dem Ungewohnten, lechzten danach, sich über Andere zu stellen, sich auf Kosten Anderer in ein vermeintlich helleres Licht zu rücken.
Jeder war davon überzeugt, besser zu sein, über dem Anderen zu stehen. Toleranz war für sie ein fremdes Wort. Feindselig waren sie.
Dabei tat er doch niemandem etwas. Er war ganz friedlich. Er war einfach nur nicht wie sie.
Doch sie kannten ihn eben nicht.
Niemand kannte ihn hier.
Er hatte bisher in den Wäldern gelebt. Versteckt und abgeschirmt. Bei seiner Familie.
Ein Schoß, ein Ort, eine Welt aus Sicherheit, Geborgenheit, ein Zuhause. Dort wurde er verstanden. Sicherlich, es gab gelegentlich Streit. Es waren nicht immer alle einer Meinung. Manchmal musste eben gebrüllt werden. Aber alles ließ sich klären, denn alles gründete sich auf dem Vertrauen zueinander. Eine innige Verbundenheit über Generationen hinweg.
Sie alle fehlten ihm jetzt. Überhaupt schien alles weit, weit weg.
Warum war er jetzt an diesem Ort, in dieser Stadt? Was hatte ihn hierher geführt?
Warum hatte er nur seiner Neugier nachgeben müssen und seinem Entdeckergeist?
Würde er hier sein Ende finden? Vielleicht durch einen kräftigen Hieb, der ihn zu Boden streckte. Hier und jetzt auf diesem Gehweg?
Er blickte sich noch einmal um.
Grau, betoniert, gepflastert, staubig, zugebaut.
Gebäude versperrten den Blick in den Himmel. Keine Weite, kein Horizont. Und dieser Lärm. Autos hupten, Musik drang auf die Straßen. Aus jeder Ecke unterschiedlich, lautes Reden, Brüllen. Und es stank nach Müll, nach Abgasen und nach zu vielen Menschen in ihren Polyesteranzügen, billiges Aftershave hing in der Luft.
Die Sonne brannte unerbittlich. Es war heiß. Kein Fluss, an dem er sich kühlen konnte, keine Baumgruppe, unter der er Unterschlupf und ein bisschen Schatten finden konnte.
Doch hier herrschte eine solche Orientierungslosigkeit.
Das war nicht die Unabhängigkeit und Freiheit, nach der er sich gesehnt hatte.

Seine Mutter hatte ihm von der Stadt erzählt, sie hasste sie.
Sie hatte in der Stadt zu viele Verletzungen erfahren. Vor allem, als er selber noch ein Kind war. Sie war geflohen vor der Gemeinschaft und ihren Gemeinheiten.
Sie hatte ihr Kind beschützen wollen vor den gehässigen Blicken und den Rufen der anderen. „Mondmann!“, „Flachkopf!“ und „Trommelgesicht!“.
Die so riefen, machten sich gar nicht die Mühe, den Menschen dahinter zu sehen.
Die Seele und auch den Schmerz, den sie auslösten mit jedem „Flachkopf“.
Es reichte ihnen, dass er anders aussah.
Seine Gesichtskonturen waren fast nicht vorhanden, sein Kopf war eine Scheibe.
Eine blasse, helle Scheibe. In der Farbe des Mondes.
Das war alles, das war der Unterschied.
Er hatte Sinne, konnte schmecken, riechen, sich verständlich machen. Lachen. Lieben.
Doch die vorlauten Kinder und die abgestumpften Erwachsenen sahen nur den Mond.
Vielleicht sollte er dort nach seinem Glück suchen. Der Mond schien ihm ein Ort, der Horizont, Weite und Ruhe versprach.
Und vor allem war er weit weg von dieser Stadt.

Jetzt war er mit einem mal wieder hier.
Und in diesem Augenblick stand plötzlich dieser Bär vor ihm.
Groß und braun.
Bewegungslos verharrte er eine Zeit lang.
Sie blickten einander an.
Vielleicht war dieses zottelige Wesen hier genauso einsam wie er selbst.

Cornelia Greef