Als mein Vater den Brief geschrieben hatte, damals, vor vielen Jahren, hatte er sich das alles mit Sicherheit ganz anders vorgestellt. Er war jung, er fuhr einen roten Karmann Ghia und er suchte eine Frau für den Beifahrersitz. Warum es dann ausgerechnet meine Mutter geworden war, ist eine gute Frage. Sie hatte die Anzeige aufgegeben. Sie hatte kein Auto. Und vielleicht war das schon das einzige Detail, das passte. Das erste Treffen fand beim Hühner Hugo statt. Sie heirateten. Ich wurde geboren. Zwei Jahre später kam mein Bruder. Mein Vater hatte den Karmann Ghia mittlerweile gegen einen himmelblauen Opel Ascona eingetauscht. Wir waren in eine Siedlung am Stadtrand gezogen, in der es außer Zigarettenautomaten für die Erwachsenen und Kaugummiautomaten für die Kinder keinerlei Infrastruktur gab. Die Siedlung grenzte an einen Truppenübungsplatz. Überall auf dem Gelände gab es Erdlöcher, in denen des nachts die Soldaten der nahen Kaserne hockten. Beim Spielen auf dem Gelände fanden wir Kinder manchmal leere Patronenhülsen. In einer mit reichlich Stacheldraht abgeschirmten Schonung stand sogar ein Panzer.
Mein Vater arbeitete bei der Bundeswehrverwaltung. Er hatte dort seine Ausbildung absolviert und ist bis zur Rente geblieben. Als Kind begleitete ich ihn manchmal ins Büro. Mehr als die Schranke am Eingang faszinierte mich nur der Locher auf dem Schreibtisch meines Vaters. Ich produzierte Konfetti, Konfetti und noch mehr Konfetti. Mein Vater telefonierte und bearbeitete Akten. Er hatte keine Schreibmaschine. Er schrieb mit der Hand. Erst viel später habe ich erfahren, dass er sich um die Besoldung von Soldaten in Auslandseinsätzen kümmerte. Mein Vater erzählte wenig von seiner Arbeit. Wenig von seinem Leben. Überhaupt wenig von sich. Nach Feierabend saß er gerne auf unserem Balkon, von dem aus man in ein angrenzendes Waldstück schauen konnte. Neben ihm auf dem Balkontisch drei Utensilien: ein Notizblock, ein Fernglas, ein Vogelbestimmungsbuch. Mit dem Feldstecher observierte mein Vater den Waldrand. Hatte er dann einen Kleiber, einen Pirol oder eine Heckenbraunelle erspäht, wurde die Beobachtung auf seinem Notizblock festgehalten. Mit Datum und Uhrzeit. Was er mit den Aufzeichnungen vorhatte, hat er uns nie verraten.
Als meine Eltern zusammenzogen, hatte mein Vater kaum Hausrat mitgebracht. Außer den Vögeln. Ein Eichelhäher, ein Wiedehopf und eine Rohrdommel. Allesamt mausetot und ausgestopft hingen sie an der Wand unserer Diele. Die Diele war ein schmaler, dämmriger Schlauch mit brauner Streublümchen-Tapete, nur spärlich beleuchtet von den selbst getöpferten Deckenlampen meiner Mutter. Wenn meine Freundinnen mich zuhause besuchten, schämte ich mich immer ein bisschen.
Zwischen meinen Eltern lief es nicht gut. Schon aus frühester Kindheit erinnere ich lautstarke Streits, die immer damit endeten, dass meine Mutter rauchend und manchmal auch weinend in der Küche stand. Vermutlich waren die Erwartungen, die beide an das Leben hatten, einfach zu unterschiedlich. Mein Vater hätte gerne ein Eigenheim erworben, um darin mit der Vorzeige-Familie zu leben, die wir nicht waren. Und meine Mutter war auf der Suche nach Selbstverwirklichung. Sie flocht Makramee-Eulen und entdeckte früh die Vollwertküche für sich. Sehr zum Leidwesen meines Vaters, der eine stille Sehnsucht nach Fleisch, Kartoffeln und Bratensoße hegte.
Die Nachbarn in unserer Siedlung hatten längst erkannt, dass wir anders waren als sie. Mein Bruder trug in seiner extremsten Phase die Haare bis zum Hintern, schwänzte die Schule und lud schon mal Obdachlose zu uns nach Hause ein, um mit ihnen zu kiffen oder spontane Bongo-Sessions abzuhalten. Seine Freunde pinkelten die Autos unserer Nachbarn an und einmal kam sogar die Polizei mit einem Durchsuchungsbescheid. Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt bereits ausgezogen. Eines Tages kam ein Anruf von der Schule. Mein Bruder sei zusammengebrochen. Drogen. Man möge ihn bitte abholen. Mein Vater verließ seinen Schreibtisch mit den Akten und dem Locher, fuhr durch die Schranke und sammelte meinen Bruder ein. Wir fuhren an den Niederrhein. Über schnurgerade Alleestraßen, an deren Rändern sich links und rechts bis zum Horizont flaches Grün erstreckte. Dort gab es eine Klinik, die neben psychisch Kranken auch Suchtkranke aufnahm. Und so standen wir irgendwann zu dritt am Empfang. „Wollen sie Ihre beiden Töchter anmelden?“ lautete die Frage an meinen Vater. Er sammelte sich einen Moment, drückte sein Kreuz durch und sagte: „Nein, meinen Sohn.“
Seit dieser Episode sind fast dreißig Jahre vergangen. Vieles hat sich verändert. Und manches hat Bestand. Mein Vater beobachtet immer noch Vögel. Er hat eine neue Frau gefunden, die besser zu ihm passt. Meine Mutter sieht er regelmäßig, alle paar Wochen, wenn sie zusammen zum Friedhof fahren.
Alexandra Wehrmann