Ich bin überhaupt nur drauf gekommen, zu recherchieren, weil ich letztens einen Roman auf dem Trödel gekauft habe, der in Kroatien spielt. Einen Liebesroman. Ich fand ihn gar nicht so sonderlich gut, aber die im Buch erwähnten Ortsnamen schickten einen Adria-Wind durch meinen Körper. Als Kind verbrachte ich nämlich viele lange Sommer mit meiner Familie in Kroatien.

Der Roman spielt in Makarska. Da war ich nie, glaube ich. Aber der Name stand auf dem Flaschenetikett mit dem Himbeersirup, den wir in diesen Urlauben immer tranken. Sofort war beim Lesen der Geschmack wieder da: süß und schwer und nur zu ertragen, wenn man ihn mit viel Wasser auffüllte. Dazu aßen wir Brotfladen, gefüllt mit fünf einzelnen Ćevapčići und Senf. Die gab es an der Promenade vor einem der großen Hotels in Mlini. Genau wie die Meeresfrüchte-Salate, die wir liebten. Allerdings wohnten wir nie in einem solchen Hotel. Wir hatten immer ein Ferienhaus oder „Camere“, einzelne Zimmer in Privathäusern. Manchmal hatte man Glück und im Nebenzimmer wohnten die Kinder der Vermieter. Andrea und Madlena beispielsweise, die auf unserem Gang während unserer ersten Urlaube wohnten. Ihr komplettes Zimmer war dekoriert mit Postern von Duran Duran. Madlena war großer Fan. Ich hatte von dieser Band noch nie gehört, aber der Name klang interessant. Und diese Frisuren erst!

Die Idee, in Mlini Urlaub zu machen, stammte von Amrei, der Cousine meines Vaters. Sie war mit einem kroatischen Künstler verheiratet, dessen Elternhaus direkt nebenan lag. Wir Kinder sollten ihn „Onkel Bruno“ nennen. Onkel Bruno forderte diese Bezeichnung mit großer Vehemenz ein. Er war das, was man „larger than life“ nennt: exaltiert, laut, großzügig, eitel, schnell beleidigt, schnell wieder versöhnt. Er rieb sich gern an meinem ebenfalls ziemlich exzentrischen Vater. Oft saßen die Erwachsenen abends zusammen, tranken viel zu viel Alkohol, mein Vater provozierte, Bruno explodierte – oder umgekehrt. Wir Kinder schliefen da schon längst, aber dass es manchmal Ärger gab, spürte man auch tagsüber. Und da meine Mutter jahrelang Urlaubstagebücher führte, kann ich diese Geschichten heute noch nachlesen. Ich hatte nicht direkt Angst vor Onkel Bruno, aber großen Respekt. Seine Stimmungsschwankungen waren für mich schwer nachzuvollziehen und einzuschätzen.
Was ist eigentlich aus ihm geworden? Und aus Amrei? Ich begann zu recherchieren. Seine Wikipedia-Seite fand ich recht schnell, Amrei zu finden war schwieriger. Sie war Lehrerin und Künstlerin und einige sehr veraltete Webseiten ließen die Hoffnung zu, dass sie vielleicht noch leben könnte. Bruno war schon zehn Jahre lang tot. Dann gab es noch die Tochter der beiden. Sie war ein paar Jahre älter als ich, damals schon ein Teenager. Meine Eltern redeten mit ihr ganz anders als mit uns Kindern. Auf Augenhöhe. Und sie hörten ihr auch anders zu. Während ich damals von den Erwachsenen zum Spielen mit den anderen Kindern weggeschickt wurde, durfte sie bleiben. Weil mir ihr Name nicht mehr direkt einfiel, rief ich meinen Bruder an. Der wusste ihn sofort: Kike. Ich bewunderte die balletttanzende Kike, meine Mutter und Amrei, die ich allesamt wunderschön fand.
Ich entdeckte Kike sofort bei Instagram und scrollte mich durch ihren Account. Bilder vom glasklaren kroatischen Meer, Videos von ihr, wie sie durch die pandemisch-menschenleere Innenstadt von Dubrovnik stromert. Fotos von Madlena! Von der Madlena, bei deren Familie wir damals wohnten! Ich konnte es gar nicht fassen. Und Fotos von Amrei. Inzwischen ergraut, immer noch wunderschön und laut den zwei Jahre alten Kommentaren unter dem Foto topfit.

Kikes Account machte mich glücklich, aber auch wehmütig, und mir war erst gar nicht so richtig klar warum. Denn obwohl die Fotos natürlich fantastisch waren, gehörten unsere Kroatienurlaube nicht zu meinen liebsten. Ich konnte die Hitze nicht ertragen, war permanent schmerzhaft sonnenverbrannt und es gab absolut nichts zu tun, große Langeweile, sodass ich „Das doppelte Lottchen“ fünf Mal in einem Urlaub lesen musste. Warum also diese Wehmut? Natürlich lag es an den Menschen. An denen, die jetzt fehlten. Diese Urlaube markierten eine Zeit, in der wir noch alle eng zusammen waren. Mein Vater ist schon lange tot. Meine Mutter lebt noch, aber sie ist nicht mehr dieselbe wie früher. Ihre Demenz hat unser Rollenverhältnis umgekehrt. Mein Bruder und ich kümmern uns jetzt um sie, so wie sie sich früher um uns kümmerte. Es war also Sehnsucht nach der Kindheit, nach einer Zeit, die auch nicht sorgenfrei war. Aber vielleicht waren die Sorgen irgendwie kleiner. Rückblickend wirkte es jedenfalls so. Es war so viel passiert in der Zwischenzeit. Ich fragte mich, wie ist es Andrea, Madlena und Brunos Verwandtschaft während des Kriegs ergangen war. Schließlich machte ich Screenshots von den Instagram-Fotos und schickte sie meinem Bruder. „Guck mal, das sind Kike und Madlena! Und Amrei!“, schrieb ich ihm. „Cool!“, schrieb er zurück.

Ich werde Kike auf Instagram mal anschreiben. Ob sie sich überhaupt an uns erinnert? Es ist so unglaublich lange her alles und ich habe viele Fragen. Bei Wikipedia las ich übrigens, dass Joseph Beuys der Trauzeuge von Tante Amrei und Onkel Bruno gewesen sei. Darauf muss ich Kike auch mal ansprechen, falls sie sich meldet.

Julia Doppelfeld