Meine Eltern haben mindestens zwei Entscheidungen getroffen, die mich auf den richtigen Weg brachten. Einen Fernseher schafften sie erst an, als Bücher bereits unverrückbarer Bestandteil meines Lebens waren. Da war ich elf, und bald wurde Schreiben mein Werkzeug, um mit der Welt klarzukommen. Und statt uns alle zu Beginn der Sommerferien in ein Flugzeug oder ins Auto zu stecken, brachen sie mit meinem Bruder und mir zu mehrtägigen Radtouren auf, die für uns ein größeres Abenteuer waren als alles, was die TKKG-Truppe erlebte. Im Fernseh-Fall war ihnen der pädagogische Zweck der Maßnahme völlig klar. Was das Radfahren betrifft, suchten sie vermutlich nur nach einem einfachen Weg, regelmäßige Aufenthalte an der frischen Luft und zügiges Einschlafen in der Jugendherberge sicherzustellen.
Was sie mir darüber hinaus auf dem Rad mitgaben, ist ihnen nie bewusst gewesen. Wie wahnsinnig gut diese Idee mit den gemeinsamen Touren ist, fiel mir erst später auf. Es ist der einzige Urlaub, der mit dem Abschließen der Haustür einsetzt, weil die erste Etappe die Anreise ersetzt. Danach zeigt sich, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Fahre ich vorne und trage Verantwortung für das rechtzeitige Abbiegen? Ruhe ich mich hinten im Windschatten aus? Geht mir das alles viel zu langsam, so dass ich mich entschließe, alle anderen weit hinter mir zu lassen?
Noch heute kommt mir der Tag an der Mosel in den Sinn, als die zuvor flache Strecke mit einem Mal weg vom Fluss durch für uns Niederrheiner horrendes Mittelgebirge führte. Damals wurde mir klar, dass ich es besser fand, mich mit acht Stundenkilometern einen Berg hochzukämpfen, als abzusteigen und zu schieben, obwohl beides ähnlich würdelos aussah. Als ich es auf den Gipfel und wieder ins Tal geschafft hatte, wartete ich ein paar Minuten auf meinen Bruder und eine Stunde auf meine Eltern. Zum ersten Mal merkte ich, dass sie alt wurden. Der Körper, der noch zulegen konnte, war meiner.
Mein Bruder war eher so der Erik-Zabel-Typ. Keinen einzigen Sprint gewann ich gegen ihn. Meine Stärke lag darin, einfach nie mit dem Treten aufzuhören. Ich trat nicht besonders schnell, aber ich trat und ich wurde nie müde. Nach einem zur Legende aufgestiegenen Brechanfall im Schulbus fuhr ich bis zum Abi mit dem Rad zum Gymnasium im Nachbarort. Ich fuhr auch zum Zivildienst und zur Arbeit nach Düsseldorf, als mir der Stau auf der A52 zu viel wurde. Nicht ein einziges Mal, nicht beim stärksten Regenschauer, entmutigte mich die Aussicht, gleich noch aufs Rad steigen zu müssen, um nach Hause zu kommen.
Bis heute bin ich nie ernsthaft mit dem Rad auf die Fresse geflogen. Sogar bei den wenigen Fällen von Schneefall im Flachland hielt ich das Gleichgewicht. Wie schlecht auch immer es mir sonst ging – und mein Gedankenkarussell sorgte dafür, dass es mir regelmäßig schlecht ging – auf dem Rad fühlte ich mich unangreifbar. Hier konnte mir nicht das Geringste passieren. Bis dann doch etwas passierte. Zu einer Zeit, als auch mein Körper längst nicht mehr zulegen konnte, fuhr ich einen winzigen Anstieg hinauf. Normalerweise wäre das eine Sache von zwei, drei Tritten gewesen, plötzlich aber musste ich vom Rad steigen, weil meine Beine nicht mehr wollten. Das kannte ich nicht. In den Wochen zuvor hatte ich vage Symptome wie Kurzatmigkeit beim Treppensteigen noch abgetan, jetzt wurde mir klar, dass es ernst um mich stand. Hier wurde ich in meiner Burg angegriffen. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren machte ich einen Termin beim Hausarzt. Als es darum ging, die Blutwerte zu besprechen, klappte ich auf dem Weg zu ihm einfach zusammen. Nein, die Blutwerte waren nicht gut. Im Krankenhaus halfen sie mir zwei Wochen lang wieder auf die Beine. Dass ich noch mal davongekommen war, glaubte ich erst, als ich mich wieder aufs Rad setzte und den Hügel hinauffuhr, ohne auch nur aus dem Sattel zu gehen.
Sebastian Dalkowski