Prolog

…You do something to me
Something deep inside
I’m hanging on the wire
For love I’ll never find

I’m dancing through the fire
Just to catch a flame
Feel real again …

Das Wir indes, es kratzte an der Tür der letzten Totentänze, um die brüchigen Fassaden des ersten Lockdowns zu beschließen. Ich aber liebte den zweiten, regenerierte mich vom Krebs und war des Kapitalismus müde. Wir: das kapselte sich ab / und zu / und manchmal auch ein. Und nur vage noch, vage erinnerte es am Rand der neuen Welt an alte Gesichter, die auf halbem Weg verschütt’ gegangen waren.

1

Nach ihrem Schlaganfall im September 2020 war Hilda, wie man sie nannte, klar, dass sie jetzt ein bisschen eine Andere war als noch kurz zuvor. Auch diese Hilda machte bald wieder alles mit, auch, um das Offensichtliche zu verbergen, nämlich, dass sie jetzt ein wenig weniger Hilda war als noch 2019, same same but different.

Sie traute sich nicht mehr so recht über den Weg. Wenn sie ein Messer aus der Schublade nahm, dachte sie zum Beispiel „Gabel“, erschrak dann kurz und schämte sich still, weil irgendetwas nicht stimmte in dem Satz zwischen Bild, Wort und Welt. In solchen Momenten war Hilda dann völlig allein in sich, weil man so was Lächerliches ja beim besten Willen niemandem erzählen konnte. Genauso wie das mit rechts und links oder oben und unten … Mittelstein, Kantenstein, Eckstein. So ließ sie diesen Zauberwürfel ungelöster Wörter dann immer wieder stehen, um sich der Küchenarbeit zu widmen, weil es zu anstrengend ist, das Nichts weiterzudenken.

2

So oder so ähnlich musste sich auch Hildas Sohn, der Fassblender oder Fuzzy, wie er von allen liebevoll genannt wurde, Jahre zuvor gefühlt haben, als plötzlich — gerade war er noch allein gewesen — sehr viele fremde Menschen in seiner Küche standen, sich, ohne ein Wort zu sagen, im Raum verteilen und ihn anstarrten. Er hatte sich zwar gewundert, weil er niemanden eingeladen hatte, blieb aber das gute alte und offene Haus, das er eben war, und begrüßte die Fremden herzlich.

Der „Lange“ etwa, der stand dann aber stundenlang in der Ecke und verlängerte sich unaufhörlich, aber nie, nie! kam der Typ oben an der Decke an. Und das sagte der Fassblender auf der Wache auch der Polizei, die er, als es ihm schließlich zu bunt wurde in der Schweigsamkeit der vermeintlichen Genossen, zu Hilfe gerufen hatte, damit sie alle gefälligst! aus dem Haus entfernten. Denn es war schließlich sein Haus. „Gentlemen, gehen wir!“. Die beiden Herren Polizisten folgten ihm in die nahegelegene Wohnung und stellten fest: nichts. Prompt übersiedelte man Fassblender auf die Baumgartner Höhe, wo er eine Weile blieb, um seine Puzzleteile neu zu sortieren.

3

Man hatte Hildas Hände in dicke Mullbinden gewickelt und hoffte das Beste, nämlich, dass sie zu einer Sprache zurückfinden möge, die ihr vorübergehend abhanden gekommen war, da, in Zimmer 1408, auf der Beobachtungsstation der Neurochirurgie. Dass sie „kämpfen“ würde, wie man das eben so macht, wenn’s hart auf hart kommt.

An Hildas Bett stand ein Familienfoto: Helen, Bernd, Fassblender und sie bei einem Spanien-Urlaub 1998. Helen war etwas zu blass und dünn, Bernd hingegen rotgesichtig und beinah ungesund dick. Fassblender aber, mehr Seele als Mensch, stach neben dem Rest der Familie mit seinem neonfarbenen Anzug und dem goldenen Cap augenzwinkernd hervor. Er sah also blendend aus, was manchmal täuschte.

Während Hilda ihre Trümmer träumte, wartete man geduldig auf den Tag, an dem sie sich nicht mehr selbst aus Reflex ins Gesicht schlagen würde. Man sang und spielte ihr verschiedene Jahre vor, zum Beispiel 1979 The Hollies, auf dass sie sich erinnern möge, an den geilen Scheiß, die Unbeschwertheit damals, den nicht mehr vorhandenen Clou. Revival! — Die Hoffnung, Hilda würde erwachen aus dieser Warteschleife:

If I could make a wish, I think I’d pass
Can’t think of anythin‘ I need
No cigarettes, no sleep, no light, no sound
Nothing to eat, no books to read …

Dieser und andere Motivations- und Erinnerungssongs schleppten sich über Tage und Wochen unerhört durch’s Krankenzimmer. Auch Hildas Tochter Helen, die Tochter, die immer sang, wenn niemand zuhörte, sang ihr vor. Bernd, dem Mittleren, war hingegen noch nie nach Singen zumute gewesen, oder: er hätte es gar nicht gekonnt. Er zog sich zurück und regelte alles Weitere von außen, denn Regeln kannte und konnte er gut.

4

Ja, das Haus gehörte Fassblender. Dort wurde er geboren, dorthin kehrte er zurück. Zuletzt hatten er und Bernd noch zusammen das Torschloss repariert. Daraufhin schloss sich Fassblender von innen aus und zwei Fahrräder zusammen, die noch sehr lange innig aneinander gelehnt im Hof stehen würden.

„Ich bin der erste Mensch, der sein eigenes Haus besetzt, ich besetze mein eigenes Haus!“, hatte Fassblender in einem Heureka verlautbart und lehnte sich zufrieden zurück. Dann stand er schlurfig wieder auf und stellte eine Matratze vor’s Fenster. Diejenigen, die mit ihm drin saßen, in der Dachstube im Haus, stimmten ihm vergnügt zu und meinten, dass dies eine wirklich außergewöhnlich, außergewöhnlich! gute Idee sei.

Endlich wurde die Nudelmaschine wiederbelebt und die Nudeln zum Trocknen auf den Besenstiel gereiht. Dabei spielte man „Wenn ich mal sterbe, will ich…“. — „Dann will ich in einem Pfeifchen geraucht werden“, rief einer begeistert, und so ging es reihum. — „Wenn ich sterbe“, sagte Fassblender, „dann werde ich zum Produkt. Ein Knoppers oder eine Mannerschnitte vielleicht. Ich werde im Regal liegen und sagen: Einsamer Keks sucht Anschluss.“

5

Das Sprechen, die Musik und das alles, war überbewertet. Hilda war ja im Nirwana und das scherte sich nicht um Kategorien, weil es der Ort ist, „an dem die Gegensätze erlöschen“. Ein Fluidum, ein Flummi. Sie empfand den Piepton des EKGs, der sie kaum erreichte, als Grenztanz einer anderen, jetzt fremden Existenz. Dieser Tage gab es keinen Besuch mehr und wenn, dann waren die Regeln streng. Die Trümmerchen aus Bild und Ton überlagerten sich in einem diffusen Traum, nach dem sie ihre zuckende Hand ausstreckte, ihn aber nicht zu fassen bekam.

Die Welt da draußen war im Lockdown und Hilda im Locked-in. Input, aber kein Output. „Come in and find out“, höhnte ein Jingle aus dem Radio im Schwesternzimmer nebenan. Im anhaltenden Dämmerschlaf durchbohrte sie ein Gedanke wie ein Schnellschuss: „Der Fuzzy ist nicht mehr da!“. Ein sich sternförmig ausbreitender Schmerz im tiefsten Innern ihrer Biographie. Irgendwas in ihrem Hirn lachte kurz beißend auf und sie schnappte in die leere Luft, wie nach einer lästigen Fliege. Ihr eigenes leises Echo drangsalierte sie aus der Ferne.

Als Hilda viele Tage später erst wieder erwachte, fiel ihr Blick auf das Familienfoto. Sie bemühte sich sehr, alles wieder scharf zu sehen, aber es gelang ihr nicht. Fassblender war irgendwie verblasst, wie hinter Milchglas, schemenhaft nur zu sehen. — „Ich muss dir was sagen, Mutti …“. Helen stand an ihrer Seite und hielt ihre Hand. Hilda drehte den Kopf weg und schlief sofort wieder ein.

Epilog

In diesen Tagen verzeichnete Wir: „Das Jahrhundert läuft aus.“ Dass alles rückläufig sei, was fortschritt. Dass die Uhr sich wiederhole bis zur Unkenntlichkeit, dass sie verrückt würden, die Gesichter, da, hinter’m Zaun. Ich konstatierte: „L0VE“ würde von nun an mit Null geschrieben, die Wörter in Zahlen codiert, wie frierende, große Tiere. Als alles Tiefschürfende einschlief, so flüchtig in sich, dass Sterben kein Ort ist, verzehrte es sich in den Sperrbezirken, das Wir, hinter Viren, und hielt sich im Zaum.

Fassblender verzichtet.

Fassblender verblicht.

Fassblender bricht aus.

… And as long as
The wind blows
The tides flow
Along

Under a blue sky
On a new wave
In a new world
Today …

Sina Klein