Er konnte die Nationalhymne und das Alphabet rülpsen, allerdings nicht komplett. Bei „Vaterland“ kam er ins Schnaufen, und bei „S“ presste er die Luft so verzweifelt in die Speiseröhre, dass er fast kotzen musste. Aber immerhin: „S“! Ich habe ihn dafür bewundert.
Stefan war mein bester Freund, wir gingen in dieselbe Klasse, und wenn wir nach der Schule zuhause angekommen waren, riefen wir einander an, um uns für den Nachmittag zu verabreden. Wir machten unsere Treffen nie in der Schule aus, nur am Telefon, was doppelt bescheuert war, denn wir trafen uns ohnehin jeden Tag und immer bei ihm.
Er lebte allein mit seiner Mutter, sie ging arbeiten, sie kochte vor, die Wohnung roch danach und vor allem Stefans Zimmer, weil er die aufgewärmten Portionen immer am Schreibtisch aß, obwohl er es nicht durfte, sondern in der Küche essen sollte. Wir hockten bei Stefan auf dem Kleiderschrank, das war unser Platz, wir stiegen über die Kommode hinauf und tranken Cola, bei Stefan war immer Cola im Kühlschrank, und er verließ unseren Aussichtsplatz nur, um die „Fragezeichen“-LP von Nena umzudrehen. Wir hörten immer diese Platte: „Heut komm’ ich, heut geh’ ich auch / Und morgen ist es dann vorbei / Vielleicht bleib’ ich auch / Gestern, das liegt mir nicht / Heut brauch’ ich Liebe, die endlos ist.“ Einmal warf Stefan einen Schaumstoff-Tennisball gegen den Tonarm, weil er zu faul war, runterzuklettern.
Stefans Mutter besaß ein VHS-Gerät, manchmal schauten wir Filme, meistens spielte Steve Martin mit, und in einem Film saß er mit einer Frau auf einem Sofa. Er fand die Frau toll, und als er aufstand, rutschte sein auf dem Schoß abgelegter Hut nicht zu Boden. Wir fragten uns, warum das so war, wie Steve Martin die Schwerkraft besiegen konnte, wir wussten es aber auch nicht so genau. Unser Lieblingsfilm war „Ein Ticket für zwei“, darin spielte Steve Martin mit John Candy, und Stefan sagte, dass John Candy der allerbeste Name überhaupt sei, Johannes Süßigkeit, super.
Wir waren zu zweit, es gab uns nicht einzeln, der eine war durch den anderen und mit dem anderen. Wir konnten werden, wer wir waren, weil wir uns sicher fühlten, und sicher fühlten wir uns wegen des anderen. Wir würden nie allein sein, dachten wir. Wobei wir genau genommen gar nichts dachten, ans Alleinsein jedenfalls nicht, denn das ist das Wunderbare an diesem Alter und zugleich das Grausame, dass man nie darüber nachdenkt. Wir wussten nicht, wie groß das alles war, es war normal für uns, so normal, dass wir es nicht zu schützen und bewahren versuchten. Wir waren gedankenlos.
Stefans Mutter bekam eine Stelle in Bremen, das sind 60 Kilometer Entfernung, wir würden uns an den Wochenenden besuchen, immer im Wechsel, freitags bis sonntags. Mit der Bahn ginge das leicht, man musste nicht mal umsteigen, unsere Eltern wollten Geld für Tickets spendieren, sie versuchten, die Freundschaft ihrer Kinder gegen die Umstände zu verteidigen. Es nützte nichts. Wir besuchten uns nicht ein einziges Mal.
Jahrelang hörte ich nichts von Stefan, und dann stand er plötzlich da, auf der großen Kirmes. Er war zu Besuch, er war mit Freunden gekommen, er trug Cowboystiefel und eine Jeansjacke, die nicht mal bis zum Gürtel reichte. Ich erkannte ihn sofort, obwohl er das Haar anders trug, es fiel nicht mehr einfach so auf die Ohren, es war vorne aufgebürstet und lag an den Seiten glänzend am Kopf. Ich freute mich und war irritiert, mir waren die Leute unangenehm, die bei ihm standen; ich war beklommen und unsicher, und mir fiel zur Begrüßung nichts anderes ein als dieser Satz: „Du hast dich aber verändert.“ Die Kirmes war nun zur Bühne geworden, die Zuschauer erwarteten eine Entgegnung, Stefan musste meine Bemerkung parieren. Er glaubte, nicht anders reagieren zu können, als mit der größtmöglichen Verletzung: „Du nicht“, sagte er. Wir sahen uns nie wieder.
Zu einem Jahrgangstreffen brachte eine frühere Klassenkameradin ein Fotoalbum mit, dieses Bild steckte darin, Stefan und ich auf der Straße, und natürlich wurde ich gefragt, wie es ihm gehe und warum er denn nicht gekommen sei. Ich erklärte, dass wir uns aus den Augen verloren hätten, ich hatte das bei verschiedenen Gelegenheiten schon oft erklärt. Ich fragte, ob ich das Foto behalten dürfe.
Natürlich habe ich darüber nachgedacht, Stefan zu googeln oder bei Instagram zu suchen. Aber was würde ich sagen sollen, 30 Jahre danach? Was könnte eine Wiederbegegnung bringen? Wem würde sie nützen? Die Möglichkeit einer weiteren Verletzung wäre größer als die Wiederaufnahme dieser Freundschaft.
Stefan und ich sind heute andere Menschen. Ich weiß, dass wir die nur werden konnten, weil wir einander hatten. Das ist ziemlich viel. Und dabei sollte man es belassen.
Philipp Holstein