Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als wir uns kennenlernten. Eigentlich kannte ich sie schon vorher, aber mehr aus Erzählungen. Bärbel war die Tochter des zweiten Mannes meiner Tante, also quasi meine Cousine. Wir waren uns vor vielen Jahren schon einmal begegnet, bei einem Geburtstag oder einer Taufe oder so, aber meine Tante wohnte weit weg von uns in einer Großstadt und wir trafen sie und ihre Familie nur selten und dann meist ohne ihren neuen Mann und seine Tochter. Meine Eltern mochten ihn nicht sonderlich. Meine Tante hatte meinen Onkel verlassen wegen ihm. „Der Neue“ nannte meine Mutter ihn zunächst etwas verächtlich.
Und über Bärbel sagte sie einmal in einem Nebensatz mit hochgezogener Stimme „Fastverwandtschaft“. Meine Eltern luden diese Fastverwandtschaft damals nie ein.
Doch an diesem Tag war der Geburtstag meiner Großmutter und es hatte friedlich und freundlich und festlich zu sein. Meine Mutter hatte mir extra etwas Vornehmes rausgelegt. Wie ich das hasste! Ich hatte gar keine Lust, dorthin zu gehen. Aber ich musste natürlich. Und fügte mich. Natürlich.
Es war an dem Abend eigentlich alles so wie immer auf diesen Feiern, die üblichen Mitbringsel, die Lieblingsblumen und der „gute“ Wein. Es wurden die gleichen Geschichten erzählt und die gleichen Fragen mit den gleichen Redewendungen beantwortet. Der große Tisch war fein gedeckt und es roch nach der üblichen Speisenfolge: klare Suppe mit gestocktem Ei vorweg, dann Braten mit Salzkartoffeln und Böhnchen und zum Nachtisch Kompott.
Und doch war etwas anders als bei den letzten Festen. Meine Tante und ihr Mann waren da. Und Bärbel. Sie war ungefähr so alt wie ich, aber wirkte so viel erwachsener. Ich weiß noch, dass ich mich in dem Augenblick, als ich sie sah, wie ein kleiner Junge gefühlt habe, fein rausgeputzt von seiner Mama, der artigste Bub des Dorfes. Aber immerhin sollte ich nicht mehr am Kindertisch sitzen. Ich saß heute am Tisch mit den Großen. Und Bärbel saß neben mir. Sie schien im ersten Moment etwas unsicher mir gegenüber. Ich glaube, meine Eltern hatten sie bei ihrer Ankunft eher ignoriert. Aber Bärbel war sehr offen und freundlich, sie begrüßte alle anderen herzlich und suchte Kontakt. Schon während der Suppe hatte sie mich dann in ein Gespräch verwickelt. „Eigentlich ja Barbara, aber alle sagen Bärbel…“. Sie erzählte von sich, ihrem Zuhause und der Stadt, in der sie lebte, ihren Freunden und Freundinnen, ihren Zielen und Träumen. Und ihren Idealen. Gebannt hörte ich ihr zu. Sie sprach von mir völlig unbekannten Dingen und auch ihre Art zu denken war mir völlig fremd. Sie behandelte mich wie ein ernstzunehmendes Gegenüber. Es war eine echte Unterhaltung. Und auf einmal waren der Tisch mit der gestärkten Tischdecke, der Braten und die Böhnchen, die Bilder mit den Jagdszenen an den Wänden, die schneeweißen Gardinen aus Spitze und die Menschen um mich herum unbedeutend. Es war, als würden die Fenster aufgestoßen und als würde ich hinausgedrängt werden aus meiner Welt, die mir plötzlich so klein erschien und auf einmal peinlich war. Die Krawatte, das Jackett, der Raum wurden zu eng, denn es war etwas bei den Großeltern ins Wohnzimmer gerauscht. Bärbel hatte es in einem Geschenkpaket dorthin gebracht und schaute mir vergnügt dabei zu, wie ich es auspackte.
Es war ihre Offenheit.
Ihre Aufgeschlossenheit.
Und ihre Neugier.
Neugier, selbst auf so einen Langeweiler wie mich.
Das kannte ich nicht von hier und von uns.
Wir waren skeptisch.
Aber sie war einfach unvoreingenommen.
Ich war überwältigt.
Alle anderen kümmerten sich indes nur um Großmutter. Jetzt fällt mir wieder ein, dass es ihr 75. Geburtstag war. Sie ließen sie hochleben und es gab Reden und zig Anekdoten. Meine Mutter lief währenddessen zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her und trug allen auf. „Noch etwas?“ und „Hast du das schon probiert?“. Und mein Vater holte noch mehr Wein aus dem Keller, den „guten“, und kündigte auch schon ein Schnäpschen für später an. Und alle blickten froh und gütig zu meiner Großmutter und lauschten ihren Geschichten. Und meine Großeltern blickten beide froh und gütig auf ihre Lieben.
Bärbel und ich genossen es, die Unbeachteten zu sein. So nannten wir uns an diesem Abend und auch noch später: die Unbeachteten. Lange und ohne Pause, ohne Kompott und ohne Schnäpschen und unbehelligt von den anderen Familienmitgliedern und den Strömungen und Klimaverschiebungen zwischen ihnen sprachen wir über die Welt, über alles, was war und was kommen würde oder könnte und natürlich über uns. Ich fühlte mich sehr wohl.
Aber der Abend ging dann doch mit etwas Krach zu Ende. Eines der Kinder hatte Zank mit einem der anderen Kinder, ein Onkel hatte zu viel getrunken und die Hochsteckfrisur einer Tante war an einer Kerze in Flammen aufgegangen. Mein Vater hatte mit einem Glas Weißwein gelöscht, dem guten. Doch die Frisur und das Geburtstagsfest lösten sich jetzt auf. Und es war auch schon spät geworden. Bärbel und ihre Eltern fuhren leider etwas übereilt. Wir verabschiedeten uns hastig, aber sehr herzlich und mit der Gewissheit, dass wir uns gefunden hatten. Für mich war sie echte Verwandtschaft.
In den Jahren danach schrieben wir uns oft. Sie schickte mir Bücher, später auch Schallplatten und vor allem lange Briefe mit ihrem Blick auf die Welt. Sie brachte etwas Leben in mein Leben. Und ich gab ihr vielleicht etwas Halt in dem Familienkosmos, in den sie da hineingeraten war. Später kamen Briefe und Fotos von ihr aus Südamerika, Indien und sogar Australien. Und erst sehr viel später wurde es dann immer weniger und hörte auf, als wie selber beide eigene Familien hatten.
Ich denke manchmal an sie und an diesen Abend. Es gibt viele Fotos von dem Geburtstagsfest. Sie wirken seltsam auf mich. Meine Eltern so jung. Meine Großeltern noch am Leben. Ihre alte Wohnung in dem Haus, das mittlerweile abgerissen ist. Es gibt auch ein Bild von Bärbel und mir. Das ist am seltsamsten. Ich habe viele Jahre als Journalist bei einer großen Tageszeitung gearbeitet. Dort habe ich mir angewöhnt, Fotos in den Verlauf ihrer Stories einzuordnen. Es gab Fotos, auf denen eine Geschichte zu beginnen scheint, die in diesem einen magischen Moment des Anfangs gemacht wurden. Und es gab Fotos, die das Ende einer Geschichte erzählten. Alles, was passierte, ist vorher, das Bild illustriert das Ergebnis. Und dann gab es noch die Bilder der Zwischenzeit. Die Fotoredakteure mochten sie nicht so gern, denn sie erzählten dem Leser weniger, sagten sie. Ich aber fand sie stets am faszinierendsten.
Normalerweise gelingt mir die Fixierung eines Fotos auf einer solchen Zeitachse intuitiv und schnell. Doch bei dem Bild von Bärbel und mir ist es anders. Hier endet alles, hier beginnt alles und auch die Zwischenzeit ist eingefangen und abgebildet. Es erzählt mir etwas über meine Familie — aus einer weit entfernten Vergangenheit bis heute. Vieles hat sich verändert seitdem und nichts. Und ich sehe einen jungen Mann, für den alles möglich ist.
Heute ist mein 75. Geburtstag. Alle meine Lieben sind gekommen, um mit mir zu feiern,
Familie, Freunde, ehemalige Arbeitskollegen. Mein Sohn hat mich mit einem Album überrascht, zusammengestellt aus alten Familienfotos. Bilder von Urlauben am Meer und Fernreisen mit den schönen Autos der damaligen Zeit. Fotos von den Familienfeiern und von Personen, die schon lange nicht mehr leben. Von tollen Menschen, die ich liebe und liebte. Bilder von glücklichen Momenten und Bilder von kleinen Kümmernissen. Bilder, auf die die großen Geschichten unserer Familie folgten. Bilder, deren Geschichten mit ihnen abgeschlossen waren. Und dieses eine Bild von Bärbel und mir. Niemand weiß, was es mir bedeutet.
Unsere Freundschaft blieb weiterhin von allen unbeachtet. Jetzt ist dieses Foto hier vor mir, eingeklebt und datiert im Familienalbum mit den anderen Fotos der Verwandtschaft.
Es ist eingeordnet. Jetzt weiß ich, wo es hingehört.
Ich blicke aus dem Album hoch in die Gesichter meiner Familie und Freunde und
trinke ein Glas guten Wein auf sie. Alle Augen sind auf mich gerichtet.
Doch hinten, fast am Ende des Tisches und von den anderen scheinbar ganz außer Acht gelassen, unterhält sich einer meiner Enkel angeregt mit der Enkeltochter eines guten Freundes.
Sie sind so vertieft ineinander, sie merken nicht einmal, dass ich sie beobachte.
Er trägt ein weißes Hemd mit Krawatte und sie einen dunklen Pullover über einer Bluse mit einem Kragen aus Blütenblättern, sehr elegant.
Kann mal bitte jemand unbemerkt ein Foto von ihnen machen?
Tom Blankenberg