Familienangelegenheiten

Autor: awehrmann (Seite 4 von 4)

Tante Erikas Entscheidung

Der erste Eindruck der schier endlos verglasten Spitzbogenfenster muss unglaublich gewesen sein. Man kann heute noch ahnen, wie den Besuchern der Atem geraubt wurde, betrat man diese zerklüfteten menschgemachten Meteoriten, die in eine bis dahin sehr schlichte und niedrige Stadt eingeschlagen waren. Das war kein Raum, den man vorher kannte. Das waren doch keine Wände, sondern eher ein geheimnisvoller Wald aus Stein und Glas und der Blick wurde unmittelbar nach oben gerissen. Die generationenlange Kraftanstrengung von Tausenden beim Bau, die Knechtung einer bitterarmen Gesellschaft zur Finanzierung traten in den Hintergrund. Diese Höhe, diese lichtdurchfluteten üppigen Fenster, die unvergleichliche Raumerfahrung machten alles vergessen.

Azurblaue Fensterflächen, nur getrennt durch die schwarzen Linien der Bleieinfassungen, das war nicht der gemeinsame Himmel von draußen, das war eine Verheißung. Rot kannte man nur von der Kleidung gekrönter Häupter, aber nun schillerte es so intensiv, dass es auf der eigenen armen Haut reflektierte. Gelb, gleißend und doch so seltsam entrückt wurde zu flüssigem Gold, was sich über alle, ja alle, ergoss. Und das Grün erschien nicht mehr natürlich oder irdisch, weil es alles Vergängliche hinter sich gelassen hatte. Hielt man sich länger in dieser übernatürlichen Halle auf, gerieten die Lichtspiele auch noch in Bewegung. Wolken zogen draußen vorbei und drinnen verbanden sich hunderte flackernde Kerzen mit Schwaden von Weihrauch zu einer grandiosen Inszenierung, zu einem spätmittelalterliches Gefühlskino. Wahnsinn.

Aber die intellektuellen Architekten hinter den Gebäuden und damit die Konstrukteure einer ganzen Gesellschaft, hatten noch anderes im Sinn. Warum nicht dieses großartige Lichtkino dazu benutzen, die eingeschüchterten Betrachter zu beeinflussen. Dem Volk also beizubringen, was ihrer Meinung nach richtig, was aber auch ganz falsch war. Bilder wirkten immer schon besser als tausend Worte. So ließen sie die großen verglasten Wände Geschichten erzählen. Natürlich nur ihre eigenen Geschichten, die ihre Weltsicht begründeten. Es entstanden großartige Kunstwerke. Sie waren bevölkert mit Bildern von Menschen, aber auch all den übermenschlichen Wesen, die notwendig waren, um noch die absurdesten Gedanken zu begründen. Engel, Dämonen, Geister, prachtvoll illustriert und grandios gestaltet in eindrücklichen Metaphern, die auch die einfachsten Gemüter packten. Auf den Fenstern prangten die Erzählungen von den ewigen Fleischtöpfen eines Paradieses und dem steinigen Weg dorthin. Von Opfern, die von jenen gebracht wurden, die nun heilig genannt wurden und deren Leiden und Sterben Vorbild zu sein hatte für alle Lebenden. Eingetaucht in die zauberhafte Farbigkeit der Fenster schien das alles überzeugend und auch begehrenswert. Ganz sicher, da musste doch irgendwann etwas kommen, mit dem alle belohnt wurden, wenn man sich vorher nur an die Regeln hielt.

Also hieß es, die strikten Konventionen einzuhalten, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, ja, sich schon dafür zu bestrafen, wenn man nur an sie dachte. Im Leben alles aushalten und die vom großen System zugewiesene Rolle einnehmen. Selbst wenn dies persönliche Verleugnung und große Schmerzen bedeutete. Sollte das Gefühl aufflackern, dass man eigentlich anders sein wollte oder anders war, hieß das jetzt Sünde und war schlichtweg zu unterdrücken. Aber dann, irgendwann, sollte das Glück kommen. Später. Und wie schön dieses Später angepriesen wurde. Eine große, glückliche, heilige Familie im Paradies.
Wahnsinn.

Nun, dieser ganze Farbenzauber mit eingebauter Lebensanweisung funktionierte blendend und wurde als Ideal über viele Jahrhunderte, Generation über Generation, weitergegeben. Was die Konstrukteure dieses Systems allerdings nicht ahnten: Dass an jenem Abend in geselliger Runde, das Essen war üppig und Heinz schon besoffen, Tante Erika entschied, diesen Scheiß nicht mehr mitzumachen.

Volker Hermes

Groß und Braun

Groß war er, ausgewachsen. Und braun.
Wo kam er her, was machte er hier?
Jetzt stand er vor ihm.
So etwas hatte er noch nie gesehen in dem Land, in dem er gestrandet war.
Er war irritiert.
Und auch die anderen um sie herum blieben stehen, einige reckten die Hälse, um ihn besser sehen zu können, diesen Fremdkörper.
Einsam sah er aus.
Jetzt musste er wieder an seine eigene Familie denken.
Er hatte sie alle zurückgelassen, fernab der Zivilisation, in den Wäldern.
Die Mutter, den Vater, seine Geschwister.
Nur selten verirrte sich einer von ihnen in die Stadt.
Die Hektik, der Lärm, die vielen Menschen und überall gab es Müll und Dreck.
Alles quoll über vor Angebot an unnützen Waren.
Es gab keine klaren Flüsse, keine saubere Luft, denn die Natur war den Städtern egal.
Die echte Natur. Nicht diese gebaute, zurechtgerückte, aufgehübschte und angelegte Natur.

Er verspürte ein Kratzen im Hals bei dem Gedanken. Der Staub hier schnürte ihm die Kehle zu.
Er hustete, es hallte laut über die Straße.
Jetzt blickten sie alle zu ihm.
Und dort stand er nun inmitten einer Stadt, sichtbar und ungeschützt.
Eine Attraktion.
Davor hatte ihn seine Mutter immer bewahren wollen. Sie hatte ihn angefleht, die Stadt und die Menschen zu meiden. Ihnen aus dem Weg zu gehen.
Denn die Menschen waren hungrig nach dem Ungewohnten, lechzten danach, sich über Andere zu stellen, sich auf Kosten Anderer in ein vermeintlich helleres Licht zu rücken.
Jeder war davon überzeugt, besser zu sein, über dem Anderen zu stehen. Toleranz war für sie ein fremdes Wort. Feindselig waren sie.
Dabei tat er doch niemandem etwas. Er war ganz friedlich. Er war einfach nur nicht wie sie.
Doch sie kannten ihn eben nicht.
Niemand kannte ihn hier.
Er hatte bisher in den Wäldern gelebt. Versteckt und abgeschirmt. Bei seiner Familie.
Ein Schoß, ein Ort, eine Welt aus Sicherheit, Geborgenheit, ein Zuhause. Dort wurde er verstanden. Sicherlich, es gab gelegentlich Streit. Es waren nicht immer alle einer Meinung. Manchmal musste eben gebrüllt werden. Aber alles ließ sich klären, denn alles gründete sich auf dem Vertrauen zueinander. Eine innige Verbundenheit über Generationen hinweg.
Sie alle fehlten ihm jetzt. Überhaupt schien alles weit, weit weg.
Warum war er jetzt an diesem Ort, in dieser Stadt? Was hatte ihn hierher geführt?
Warum hatte er nur seiner Neugier nachgeben müssen und seinem Entdeckergeist?
Würde er hier sein Ende finden? Vielleicht durch einen kräftigen Hieb, der ihn zu Boden streckte. Hier und jetzt auf diesem Gehweg?
Er blickte sich noch einmal um.
Grau, betoniert, gepflastert, staubig, zugebaut.
Gebäude versperrten den Blick in den Himmel. Keine Weite, kein Horizont. Und dieser Lärm. Autos hupten, Musik drang auf die Straßen. Aus jeder Ecke unterschiedlich, lautes Reden, Brüllen. Und es stank nach Müll, nach Abgasen und nach zu vielen Menschen in ihren Polyesteranzügen, billiges Aftershave hing in der Luft.
Die Sonne brannte unerbittlich. Es war heiß. Kein Fluss, an dem er sich kühlen konnte, keine Baumgruppe, unter der er Unterschlupf und ein bisschen Schatten finden konnte.
Doch hier herrschte eine solche Orientierungslosigkeit.
Das war nicht die Unabhängigkeit und Freiheit, nach der er sich gesehnt hatte.

Seine Mutter hatte ihm von der Stadt erzählt, sie hasste sie.
Sie hatte in der Stadt zu viele Verletzungen erfahren. Vor allem, als er selber noch ein Kind war. Sie war geflohen vor der Gemeinschaft und ihren Gemeinheiten.
Sie hatte ihr Kind beschützen wollen vor den gehässigen Blicken und den Rufen der anderen. „Mondmann!“, „Flachkopf!“ und „Trommelgesicht!“.
Die so riefen, machten sich gar nicht die Mühe, den Menschen dahinter zu sehen.
Die Seele und auch den Schmerz, den sie auslösten mit jedem „Flachkopf“.
Es reichte ihnen, dass er anders aussah.
Seine Gesichtskonturen waren fast nicht vorhanden, sein Kopf war eine Scheibe.
Eine blasse, helle Scheibe. In der Farbe des Mondes.
Das war alles, das war der Unterschied.
Er hatte Sinne, konnte schmecken, riechen, sich verständlich machen. Lachen. Lieben.
Doch die vorlauten Kinder und die abgestumpften Erwachsenen sahen nur den Mond.
Vielleicht sollte er dort nach seinem Glück suchen. Der Mond schien ihm ein Ort, der Horizont, Weite und Ruhe versprach.
Und vor allem war er weit weg von dieser Stadt.

Jetzt war er mit einem mal wieder hier.
Und in diesem Augenblick stand plötzlich dieser Bär vor ihm.
Groß und braun.
Bewegungslos verharrte er eine Zeit lang.
Sie blickten einander an.
Vielleicht war dieses zottelige Wesen hier genauso einsam wie er selbst.

Cornelia Greef

Plastiktüten

Sag mal
wie war das nochmal
mit den Plastiktüten?

frage ich meine Mutter am Telefon

Na neidisch waren wir
wenn mal jemand
mit einer Plastiktüte
in die Schule kam

Häh wie jetzt
als Schultasche?
und da hat dann das ganze
Schulzeugs reingepasst?

Ja klar
wir hatten sonst auch nur
so’ne einfache Tasche in der Hand
aus Kunstleder oder
diesem falschen Jeans-Stoff

da war’ne Plastiktüte
von der West-Verwandtschaft
schon was Besonderes

mit Werbung drauf
vom Hertie-Kaufhaus
oder von Zigarettenmarken
wie HB

am besten war Marlboro
das war die große weite Welt

und die wurde dann getragen
bis sie auseinanderfiel
und man die Werbung
nicht mehr erkennen konnte

also in der Freizeit dann
denn in der Schule
kam immer ganz schnell der Direktor rein
und wer ’ne Tüte trug
musste sie für den Rest des Tages umdrehen
so dass die Werbung innen war

Ja krass

sage ich

und später hatten wir dann
die ganze Flurschublade voll
da flog einem immer gleich
alles entgegen

apropos

hast du zufällig noch ’ne Aldi-Tüte?

’Ne Aldi-Tüte
nee, wieso?

In einem Podcast haben sie erzählt
dass die Aldi-Nord-Tüte von einem Künstler
gestaltet wurde

und wenn man sich die
ein bisschen umknickt und aufhängt
hat man ein echtes Multiple
von Günter Fruhtrunk an der Wand

das Ding ist
dass Aldi-Nord die Plastiktüten
wohl nicht mehr verkauft
und wir haben hier ja
nur Aldi-Süd

Ich guck gleich mal
ob ich nicht doch noch eine hab

und ansonsten
frag ich mal Simone
oder Andrea
oder die Nachbarn hier
irgendwer
hat bestimmt noch eine

Carina Grode

Gestern, das liegt mir nicht

Er konnte die Nationalhymne und das Alphabet rülpsen, allerdings nicht komplett. Bei „Vaterland“ kam er ins Schnaufen, und bei „S“ presste er die Luft so verzweifelt in die Speiseröhre, dass er fast kotzen musste. Aber immerhin: „S“! Ich habe ihn dafür bewundert.

Stefan war mein bester Freund, wir gingen in dieselbe Klasse, und wenn wir nach der Schule zuhause angekommen waren, riefen wir einander an, um uns für den Nachmittag zu verabreden. Wir machten unsere Treffen nie in der Schule aus, nur am Telefon, was doppelt bescheuert war, denn wir trafen uns ohnehin jeden Tag und immer bei ihm.

Er lebte allein mit seiner Mutter, sie ging arbeiten, sie kochte vor, die Wohnung roch danach und vor allem Stefans Zimmer, weil er die aufgewärmten Portionen immer am Schreibtisch aß, obwohl er es nicht durfte, sondern in der Küche essen sollte. Wir hockten bei Stefan auf dem Kleiderschrank, das war unser Platz, wir stiegen über die Kommode hinauf und tranken Cola, bei Stefan war immer Cola im Kühlschrank, und er verließ unseren Aussichtsplatz nur, um die „Fragezeichen“-LP von Nena umzudrehen. Wir hörten immer diese Platte: „Heut komm’ ich, heut geh’ ich auch / Und morgen ist es dann vorbei / Vielleicht bleib’ ich auch / Gestern, das liegt mir nicht / Heut brauch’ ich Liebe, die endlos ist.“ Einmal warf Stefan einen Schaumstoff-Tennisball gegen den Tonarm, weil er zu faul war, runterzuklettern.

Stefans Mutter besaß ein VHS-Gerät, manchmal schauten wir Filme, meistens spielte Steve Martin mit, und in einem Film saß er mit einer Frau auf einem Sofa. Er fand die Frau toll, und als er aufstand, rutschte sein auf dem Schoß abgelegter Hut nicht zu Boden. Wir fragten uns, warum das so war, wie Steve Martin die Schwerkraft besiegen konnte, wir wussten es aber auch nicht so genau. Unser Lieblingsfilm war „Ein Ticket für zwei“, darin spielte Steve Martin mit John Candy, und Stefan sagte, dass John Candy der allerbeste Name überhaupt sei, Johannes Süßigkeit, super.

Wir waren zu zweit, es gab uns nicht einzeln, der eine war durch den anderen und mit dem anderen. Wir konnten werden, wer wir waren, weil wir uns sicher fühlten, und sicher fühlten wir uns wegen des anderen. Wir würden nie allein sein, dachten wir. Wobei wir genau genommen gar nichts dachten, ans Alleinsein jedenfalls nicht, denn das ist das Wunderbare an diesem Alter und zugleich das Grausame, dass man nie darüber nachdenkt. Wir wussten nicht, wie groß das alles war, es war normal für uns, so normal, dass wir es nicht zu schützen und bewahren versuchten. Wir waren gedankenlos.

Stefans Mutter bekam eine Stelle in Bremen, das sind 60 Kilometer Entfernung, wir würden uns an den Wochenenden besuchen, immer im Wechsel, freitags bis sonntags. Mit der Bahn ginge das leicht, man musste nicht mal umsteigen, unsere Eltern wollten Geld für Tickets spendieren, sie versuchten, die Freundschaft ihrer Kinder gegen die Umstände zu verteidigen. Es nützte nichts. Wir besuchten uns nicht ein einziges Mal.

Jahrelang hörte ich nichts von Stefan, und dann stand er plötzlich da, auf der großen Kirmes. Er war zu Besuch, er war mit Freunden gekommen, er trug Cowboystiefel und eine Jeansjacke, die nicht mal bis zum Gürtel reichte. Ich erkannte ihn sofort, obwohl er das Haar anders trug, es fiel nicht mehr einfach so auf die Ohren, es war vorne aufgebürstet und lag an den Seiten glänzend am Kopf. Ich freute mich und war irritiert, mir waren die Leute unangenehm, die bei ihm standen; ich war beklommen und unsicher, und mir fiel zur Begrüßung nichts anderes ein als dieser Satz: „Du hast dich aber verändert.“ Die Kirmes war nun zur Bühne geworden, die Zuschauer erwarteten eine Entgegnung, Stefan musste meine Bemerkung parieren. Er glaubte, nicht anders reagieren zu können, als mit der größtmöglichen Verletzung: „Du nicht“, sagte er. Wir sahen uns nie wieder.

Zu einem Jahrgangstreffen brachte eine frühere Klassenkameradin ein Fotoalbum mit, dieses Bild steckte darin, Stefan und ich auf der Straße, und natürlich wurde ich gefragt, wie es ihm gehe und warum er denn nicht gekommen sei. Ich erklärte, dass wir uns aus den Augen verloren hätten, ich hatte das bei verschiedenen Gelegenheiten schon oft erklärt. Ich fragte, ob ich das Foto behalten dürfe.

Natürlich habe ich darüber nachgedacht, Stefan zu googeln oder bei Instagram zu suchen. Aber was würde ich sagen sollen, 30 Jahre danach? Was könnte eine Wiederbegegnung bringen? Wem würde sie nützen? Die Möglichkeit einer weiteren Verletzung wäre größer als die Wiederaufnahme dieser Freundschaft.

Stefan und ich sind heute andere Menschen. Ich weiß, dass wir die nur werden konnten, weil wir einander hatten. Das ist ziemlich viel. Und dabei sollte man es belassen.

Philipp Holstein