Familienangelegenheiten

Autor: awehrmann (Seite 2 von 4)

Bessere Hälfte

Jens will den Wohnwagen verkaufen. Ohne Carport werden die Roststellen tiefer, sagt er. Man muss trocken und gut gelüftet parken, sagt er. Sonst: „Dauerärgernis.“ Weißt du noch, unsere allerersten Ferien damit ohne Mama und Papa? Wie wir „Dein ist mein ganzes Herz“ aus runtergekurbelten Fenstern schmetterten und ich mich am dritten Tag in den russischen Puppenspieler verknallte? Weißt du noch, die Apfelpfannkuchen im Baumhaus? Das Pony auf dem Sperrmüll? Der kopflose Bass? Weißt du noch, als sich die Gummibärchen unter der Scheibe auf dem Armaturenbrett in eine bunte Zuckerkachel verwandelten? Erinnerst du dich an das Gänsegeschnatter am See? Den Morgen mit den Störchen? Die Nachbarin ohne Klamotten? Daran von Kirchturmglocken geweckt zu werden? An unser Handklatschspiel?

Und erinnerst du dich an Zuhause? An Ellbogen auf Kissen auf Fensterbänken. „Geste der Provinz“, hast du dazu gesagt. Weißt du noch, als ich in den Gartenteich fiel und nicht ertrank? Denkst du manchmal an dein englisches Date und die Blutspur im Treppenhaus after your very first Vollrausch? An das Geflunker am nächsten Morgen bei Mandelstuten und Frühstücksei? An das Ächzen vom Schaukelstuhl, wenn wir uns auf Opas Schoß schmissen? Die Messlatte hinter der Wohnzimmertür? Wie wir uns davor einmal im Jahr aufbauten. Fersen an die Wand. Buch auf den Kopf. Bleistiftnotiz auf Raufasertapete. Erinnerst du dich an die Höhlen aus Decken, die Leuchtschuhe mit überkreuztem Klettverschluss, den Hühnerbaron, die Münzschluckerin, den zahmen Spatz Konrad, den Dackelbiss, den Geruch von Sprühpflaster, den Geschmack von Kranwasser, Malzbier, Knödel, an mich? Ich habe es geliebt, wenn du unten aus dem Etagenbett „bis morgen“ zu mir hochgeflüstert hast. Das war dein Versprechen, dass wir uns über Nacht nicht verlieren.

Die Sektflöte stößt dumpf gegen die Borke deiner Linde. „Happy Birthday, Bruderherz.“ Du wolltest keinen Grabstein. Erst leugnet und staunt und tobt und taumelt man ja. Dann beginnt das Spektakel: Alltag. Und in der Spüle stehen Gläser mit dunklen Pfützen und in der Tablettendose liegen Tabletten und im Büro sitzt jemand auf einem Drehstuhl und faselt von Buchstabenkombinationen auf Autokennzeichen. Morgen zwei Jahre.

„Geboren zur Schwester. Erkoren zum Einzelkind.“ Ey. Das hat WIRKLICH jemand auf eine Trauerkarte geschrieben. Danach warf ich alle übrigen Briefe ungeöffnet aus dem Fenster. Was heißt werfen. Ich stand in deinem alten Zimmer und das Fenster ließ sich nicht sperrangelweit öffnen. Nur auf Kipp. Es muss erbärmlich ausgesehen haben, wie ich die Umschläge durch den schmalen Schlitz quetschte. Manche zerfledderten. Ich glaube, Jens hat sie aufgesammelt und in einen Karton gelegt. Neulich habe ich ihm eine gescheuert, weil er den Staubsauger so heftig gegen den Tisch rammte, dass unser Bild zu Boden fiel. Vielleicht fang ich an, seltsam zu werden. Ich rede zu viel. Mit mir. Auch im Schlaf, sagt Jens. Wobei er natürlich nicht weiß, dass ich da mit dir rede. „Alles wird gut“, hast du gesagt. Morgen vor zwei Jahren. Ich hielt deine Hand. „Bis morgen.“ Es gibt Lügen, von denen erholt man sich sein Lebtag nicht.

Anne Florack

Schweres schwarzes Tuch

Schweres schwarzes Tuch segelt durch die Dämmerung
Es ist zu Besuch, gedankenlos und trüb
Mit Blindheit geschlagen, traumhaft unbedacht
legt es sich um eine Welt, bedeckter als die Nacht
Es ist tot, aber vielleicht kann es mich hören
Und alles, was ich geltend mache, wird es zerstören
Ernster geht es nicht, wenn auch in heiterer Gestalt
Dunkler als das Nichts, versteckt im Hinterhalt
Die Schattenwelt erhellt im Leben nicht, mein Freund
Sie wurde abgestellt und rundherum umzäunt
Ein Kinderschreck verstummt, Phantome machen kehrt
Der aufgebrachte Hund erreicht den Mittelwert
Erbarmungslose Relevanz, ganz ohne Kraftaufwand
Erhaltung ohne Firlefanz, ein wenig degoutant
Als Hüter der Befangenheit und Gönner der Gefahr
formt es die Aussichtslosigkeit zu einem Accessoire
Geschaffen und sogleich entronnen dem Lügenmärchenbuch
hat es die Willkür übernommen – das schwere schwarze Tuch
Ich kann jetzt nicht mehr stille sein und werde, wenn es geht,
mit einem Blick in Dein Gesicht ganz sachlich und konkret
Die Stadt, in der sich Häuser stapeln, wartet nur auf Dich
Und Träume, die den Kopf aufräumen, haben kein Gewicht
Dem Ende eines Tages verleihst Du Wachsamkeit
Wer Dir in Deine Fratze schaut, bleibt nimmermehr gescheit
Geschaffen und sogleich entronnen dem Lügenmärchenbuch
hat es die Willkür übernommen – das schwere schwarze Tuch

Andreas van der Wingen

Familienbande

Prolog
Mein Bruder und ich hatten als Kinder ein Verhältnis, das ich – gelinde gesagt – als distanziert bezeichnen würde. Wir lebten zwar unter einem Dach, gingen uns aber, bis wir in die Spätpubertät eintraten, aus dem Weg, wann immer dies möglich war. Wir grüßten uns nicht einmal, wenn wir uns in unserem Elternhaus begegneten. Bis zu dieser einen Nacht im Sommer, Ende der 1980er Jahre. Ich war 15 oder 16 Jahre alt und kam kurioserweise von der gleichen Party nach Hause, auf der auch er gewesen war, und wir, wie immer, als Fremde aneinander vorbeigelaufen waren. Als ich damals die Haustür aufschloss, stand er schon im Flur, auch gerade heimgekehrt, und sagte „Hallo“. Was hier banal klingen mag, bedeutete für uns damals mehr Intimität als alles, was wir sonst in den vorhergegangenen zehn Jahren ausgetauscht hatten. Aus dieser völlig unerwarteten Begrüßung folgte eine Nacht, in der wir über alles Mögliche sprachen, Rotwein aus dem Wohnzimmerschrank unserer Eltern tranken und Musik hörten, bis die Sonne aufging. Von dem Zeitpunkt an war alles anders. Wir teilten anschließend sogar einige Jahre den gleichen Freundeskreis. Aber das ist eine andere Geschichte. Denn eigentlich möchte ich erzählen, wie es meinem Bruder gelang, mich musikalisch zu sozialisieren – und das, ohne auch nur ein einziges Wort mit mir zu sprechen.

Teil 1: Erste Inspiration
Wir schreiben die frühen 1980er Jahre. Ich bin wahrscheinlich in einer Art präpubertären Phase, definitiv noch erheblich mehr Kind als Teenager. Mein drei Jahre älterer Bruder hat schon ein erheblich höheres Entwicklungslevel erreicht. Und das kann ich vor allem hören. Wann immer er nach Hause kommt, presse ich mein Ohr an die Wand, die unsere Kinderzimmer voneinander trennt oder lausche heimlich an seiner Tür. Der Grund dafür: Ich möchte möglichst viel von der zunächst noch etwas fremdartig anmutenden, aber gerade deshalb so faszinierenden Musik aufschnappen, die neuerdings ständig in seinem Zimmer dröhnt. So etwas bekomme ich im Radio niemals zu hören. Zumindest nicht tagsüber auf WDR 2, dem Lieblingssender meiner Mutter. Ich verstehe rein gar nichts von diesem für mich komplett neuen Sound. Da ist eher ein sehr vages Gefühl, dass diese Klänge eventuell mein Leben verändern könnten.

Teil 2: Aktion
Dieses Gefühl treibt merkwürdige Blüten und mich dazu, in die Leihbücherei zu laufen, die mir immer wieder Antworten auf die zahlreichen Fragen liefert, die mir ständig durch den Kopf geistern. Auch dieses Mal werde ich fündig: Mir fällt eine in Neonfarben gehaltene Kassette in die Hände, auf der irgendwas von „Bollocks“ steht und die ich sicherheitshalber ausleihe. Wieder daheim höre ich sie an, getrieben von einem diffusen Gefühl, das irgendwo zwischen Neugier, Verstörung und Begeisterung zu verorten ist. Und dann weiß ich es plötzlich genau: Das will ich hören, will ich sein, was auch immer es ist! Für diese Erkenntnis hat mir ganz offensichtlich mein großer Bruder den Weg geebnet. Mir wird schnell klar, dass ich ihm dafür auf ewig dankbar sein muss.

Teil 3: Konkretisierung
Wir schreiben inzwischen Mitte der 1980er Jahre. Während meine nichtsahnenden Klassenkameraden immer noch Rolf Zuckowski und seine Freunde sowie „Ronny’s Popshow“, alte Abba-Platten aus der Schrankwand ihrer Eltern oder bestenfalls Nick Kershaw, Wham! oder Duran Duran hören, habe ich bereits einen ersten Einblick beziehungsweise kleine, vorsichtige Schritte in das unendliche Universum der Independent-Musik gewagt. Ich weiß, was abgeht, und dass das Leben erheblich mehr zu bieten hat als Ilja Richter oder Dieter Thomas Heck. Und ich bin kurz davor, es voll auszukosten.

Teil 4: Erinnerungen
Wir schreiben die 20er Jahre des neuen Millenniums und ich blicke zurück, ohne Ärger. Mein Bruder war weder Punk noch Popper, Skater, Grufti, Waver, Hardrocker oder Heavy Metal-Freak. Seine Plattensammlung enthielt vielmehr einen bunten Mix der Independent-Musik der 1980er. Ob Christian Death und Cult, Cure, Wall of Vodoo, Sonic Youth, Echo and the Bunnymen, die Beastie Boys oder Joy Division: Er hatte in seiner kleinen, aber feinen Plattensammlung alles zu bieten, was das Herz eines zukünftigen „Kassettenmädchens“ höher schlagen ließ.
Und so schlich ich mich immer wieder auf Zehenspitzen in sein Zimmer und schaute mir seine für mich heiligen Schätze an, sobald er das Haus verließ. Vorsichtig zog ich die Vinylscheiben aus ihren Covern, pustete den Staub weg und legte sie mit zitternden Fingern auf den Plattenspieler. Ich setzte den Tonarm auf und lauschte mit angehaltenem Atem dem Knistern. Vor Angst entdeckt zu werden – wir sprachen zu dieser Zeit schließlich kein einziges Wort miteinander –, drehte ich den Lautstärkeregler am Verstärker immer ganz runter und presste mein Ohr an die Box, um möglichst nichts zu verpassen. Und dann reiste ich in das für mich seinerzeit noch völlig unentdeckte Terrain der Adoleszenz, malte mir aus, wie es sein könnte, auf Partys zu gehen, mit einem total coolen Boy zu tanzen und ein Teil von all dem zu sein, von dem ich eigentlich noch überhaupt keine Ahnung hatte.
Erwischt wurde ich nie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Bruder bis heute nicht weiß, was ich in seiner Abwesenheit in seinem Zimmer trieb. Als ich dreizehn Jahre alt war, bekam ich eine Kompaktanlage zu Weihnachten geschenkt und entdeckte diesen kleinen Plattenladen in meinem Vorstadt-Viertel. Und natürlich Hitsville, den besten Record Store der Stadt, in dem ich mich kaum traute einzukaufen, weil mir vor lauter Ehrfurcht vor seinem Besitzer bei der Order zuweilen die Stimme versagte. Von nun an gab ich einen Großteil meines Taschengelds für eigene Platten aus und musste mich immer seltener in das Zimmer meines Bruders schleichen, um seine zu hören. Trotzdem vergesse ich ihm nie, was er beziehungsweise seine Plattensammlung für mich getan haben. Ohne sie wäre meine Liebe zur Musik und vor allen Dingen zu Vinyl niemals so ausgeprägt, wie sie es heute ist. Mit Sicherheit hätte ich nicht Platten aufgelegt, wie ich es später einige Jahre mit viel Leidenschaft getan habe. Vielleicht hätte ich nicht all die tollen Clubs und mit ihnen die spannenden Menschen kennengelernt, die mein Leben so bereichert und mir all die prägenden Erfahrungen beschert haben.

Epilog
Heute fehlt mir meist die Zeit, mich meiner Plattensammlung zu widmen und ihr die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient hätte. Dabei könnte ich wieder reisen, aber dieses Mal in viele wunderbare Erinnerungen, die ich mit der Musik verbinde; den Platten, die mein Leben geprägt haben. Einige von ihnen hörte ich das erste Mal im Zimmer meines Bruders.

Katja Vaders

In Excelsis Deo

Ich sitze mit dir auf einer Decke im Wald. Wie seltsam verkleidet du aussiehst, so mit diesem Schleier, in diesem Blau. Ich flüstere dir ins Ohr: Ich erfinde ja die Katastrophen nicht, ich entwerfe nur die Formulierungen. Du lachst. Du lachst immer, wenn du nicht weißt, was du sagen sollst.

Ich trage noch immer diesen Bikini, weißt du noch, flüstere ich in Jennys Ohr. Doch Jenny hört mich nicht. Denn Jenny heißt jetzt Schwester Margarete und will von allen Menschen auch so genannt werden: Schwester Margarete. Damals im See, sage ich, an dieser einen bestimmten Stelle; Becki, warte auf mich, sagtest du, und dann bist du untergetaucht.

Vater hat wie immer seine alte, rot-schwarz karierte Luftmatratze ausgepackt, er hat das Hemd ausgezogen und liegt mit seinem Feinripp-Unterhemd auf dem weichen Gummi. Das sind meine Wochenendbilder im Wald: Vater, Theo und ich und hin und wieder ein paar Freunde. Jenny, flüstere ich in Schwester Margaretes Ohr und du zuckst zusammen. Ich mag deinen Blick, genauso, wie du mich jetzt gerade anschaust, ich flüstere in dein Ohr, jede Lehre, Jenny, birgt die Gefahr von Erkenntnis in sich, lass uns zum See gehen.

Was ihr denn da die ganze Zeit tuschelt, sagt Theo, der seinen Körper gefährlich nah zu meiner Seite gekippt hat. Fast schon spüre ich seine Brusthaare auf meiner Haut und ich meine, dass sein Bauch eine zusätzliche Falte bekommen hat; ach, Jenny, wenn du doch auch nur wieder im Bikini neben mir sitzen würdest, so wie früher.

Komm zurück, sage ich, und alle schauen mich an, ich meine diesen Vogel, sage ich, der da eben vorbeigehüpft ist, ich meine, dass er zurückkommen soll, er war so schön. Er hatte besondere Federn. Ich spüre, wie sich meine Lippe automatisch nach oben zieht, ich lächele, mein Kopf sinkt zu Boden. Vater fängt aus seiner liegenden Position wieder an, über die gestiegenen Brikettpreise zu reden und ich schneide ihm das Wort ab, jetzt lass mal gut sein, du und deine ewige Meckerei. Der aufkommende Windstoß trägt mir deinen achsobekannten Duft zu, lass uns zum See gehen, sage ich etwas lauter. Was ihr denn da in der Suppe wollt, sagt Vater, da komme ich gerade her, sagt Theo, das ist viel zu kalt und voller Algen.

Jenny schweigt. Wie es denn da so ist, wo du nochmal genau bist, Jenny, sagt Vater, also wie heißt nochmal diese Kirche, wo du jetzt wohnst, also so für immer, also ich meine, wo du jetzt hingehörst. Ich spüre, wie du ein wenig zögerst, du und deine Geschichte und dein Grund, warum du nicht mehr bei mir bist. Du und dein dich plötzlich in Jesus Verlieben, genau in diesem einen bestimmten Moment, wo du auf der Sommerwiese standest. Auf so einer Wiese mit Wildblumen, auf so einer Wiese, auf der wir beide nur zwei Jahre vorher auch gemeinsam standen, da hast du dich in Jesus verliebt. Was für ein Quatsch. Wir trugen keine Kleidung, erinnerst du dich noch an diese Wiese, damals vor ein paar Jahren, sage ich zu Jenny. Doch dein Blick ist starr nach vorne gerichtet und jetzt erst bemerke ich diesen jungen Herrn, der da vor uns mit seiner Kamera steht. Du hast ihn die ganze Zeit gesehen, du bist die einzige, die ihn gesehen hat, diese Erscheinung; sie hat sich in Jesus verliebt, Papa, reicht dir das nicht? Doch du hast schon angefangen mit deiner Erzählung, wie herzlich dich die Benediktinerschwestern aufgenommen haben, dass du dein Noviziat nun fast abgeschlossen hast und dass es bald um alles oder nichts gehe, um den Eintritt in den Orden, den ewigen Bund mit dem Herrn.

Du lächelst, während du das sagst, und ich empfinde Zärtlichkeit für dich. Ich will dir den Schleier herunterziehen und dich küssen und die Welt würde nur uns gehören, Becki, nicht so stürmisch, würdest du wieder sagen, und ich würde dich untertauchen, in die Tiefe, hinunter ins Wasser drücken würde ich dich und dann würdest du aufsteigen, zurück zu mir. Das, was du da gerade erzählt hast, hat sich irgendwo erschaffen. Das ist eine Geschichte, die nicht von hier kommt. Sie gehört nicht zu uns. Bedenke: Nur ich erfinde die Titel, nur ich schreibe die Geschichten; schau, wie braun meine Haut geworden ist, Jenny, und schau, wie blass dein Gesicht ist, zieh doch diese blaue Verkleidung aus, komm zurück, sage ich. Da war aber jetzt kein Vogel, sagt Theo, Theo nervt, Theo nervt, wie er schon vor zehn Jahren genervt hat, Theo, halt deine Klappe, sage ich, weißt du noch Jenny, wie er immer mit seinen Fäusten gegen die Tür geballert hat und wie wir uns in meinem Zimmer eingeschlossen haben. Und wie wir uns mit unseren Köpfen unter der Decke versteckten; die, die immer so fürchterlich kratzte. Erinnerst du dich, Jenny.

Ich rufe dir meine heutige Erfindung zu, ich sage, Jenny, denk doch mal an Herrn Berghaus, unseren Mathelehrer und an seine schwulstigen Lippen, die wie von einem Fisch aussahen, wie von diesem Fisch von Arielle, diesem Fisch, wie hieß er noch, Fabius, sagt Theo, dieser beknackte Fisch hieß Fabius. Endlich lachst du wieder, endlich spüre ich wieder diese alte Kinder-Erregung auf deinem Gesicht, oh, wie ich diese kleinen Falten um deinen Mund herum liebe, wie ich eine jede Vertiefung gerne jetzt berühren würde, wie da alles erneut in mir schmerzhaft wird.

Vater öffnet seine Bierflasche und schließt die Augen. Es sind noch Geräusche in der Welt, es ist also noch gestattet zu schlafen, sagt er und hebt kurz darauf den Kopf, um die Flasche am Mund anzusetzen und sie in einem Zug zu leeren. Ich beobachte diesen kleinen Knubbel in seinem Hals, der bei jedem Schluck auf und ab springt, und ich beobachte, wie er die leere Flasche neben sich im Gras ablegt und wie seine Atemzüge mit der Zeit immer tiefer werden. Wie lange wir dort so schweigend saßen; oh Jenny, ich weiß es nicht, Jenny, komm zurück. Meine Zunge, meine Sprache, wohin sie auch geht, ich muss ihr folgen, ihren schlüpfrigen Befehlen, Jenny, komm zurück, sage ich und neige mich dabei wieder zu deinem Ohr. Dieses Haar zu verstecken, es zu bedecken, Jenny, so rücke doch ein kleines Stück näher zu mir, bewege dich und werde wieder frei. Gelobt sei dein schwarzes Haar, das du nun so streng bedeckst, es hat sich doch schon so oft um meine Finger gekräuselt, erinnerst du dich? Jetzt endlich wendet sich Jenny meinem Körper zu und endlich ergreift sie meine Hand. Nun soll es soweit sein. Weißt du, Becki, es gibt so eine schöne Stelle in der Offenbarung des Johannes, davon möchte ich dir erzählen.

Ich bemerke die Ernsthaftigkeit in Jennys Augen, ich spüre, dass sie mir etwas ganz Wichtiges sagen möchte, ach, Jenny, komm her, sage ich, ich weiß ein Spiel, das heißt Abraham. Becki, sagt Jenny, du hast, oh Herr, dein Leben. So nimm denn meine Gabe, so höre, ob auch zu dir diese Stelle in der Offenbarung des Johannes spricht. Kleine Beschwörungen denke ich mir aus, jetzt für diesen Moment, in dem du mir gleich ganz nahe kommen wirst, oh, Jenny, so komm doch näher, berühre mich. Während du sprichst, bemerke ich, dass deine Zähne viel weißer als damals sind, als hätte das Leben im Kloster deine Zähne weißer gemacht; oh, ist das vielleicht möglich, dass Gott die Zähne schöner macht, wenn man so viel betet. Im Zufall meiner Zusammenkunft mit dir (warum sitzen wir eigentlich hier, im Wald, mit Vater und Bruder?) kämpfe ich gegen den Einmarsch der Vergangenheit, ich spüre, wie ich alles wieder sehe, wie alles wieder Wildblumenwiese wird, während du sprichst: Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden, sie werden begehren zu sterben und der Tod wird vor ihnen fliehen.

Ich weiß, dass die Arbeit meines Körpers andauern wird, auch wenn die Seele längst eingestellt ist. Ich sage, Jenny, schau, da setzt sich uns eine Taube gegenüber, schau, wie wir nun verpflichtet sind, unser Schweigen zu brechen. Und dann stehst du auf und ich spüre, wie eine Hand über mein schwarzes Haar streift, ganz kurz, ganz sachte und wie ich zum Abschied nur meine Decke hissen kann, meine Hülle, meine Haut.

Vera Vorneweg

Der römische Onkel

22. März, 11:20 Uhr
antonia.mauer@gmx.net to Greta2006@web.de
Gestern haben ja endlich die Ferien angefangen und wir sind abends Pizza essen gegangen. Papa macht sich immer lustig über Mama, weil sie in der Pizzeria dauernd „grazie“ und „prego“ und „buona sera“ sagt. Und weil sie immer behauptet, dass die Pizza in Rom ganz anders schmeckt, obwohl sie erst einmal dort war und das ist wohl sehr lange her. Mein Onkel Leo, der Bruder von Papa, wohnt in Rom und ich will ihn unbedingt mal besuchen.
Wir fahren in diesem Jahr nicht weg, wegen Oma Marthas 70. Geburtstag. Dass wir den groß feiern, ist ja in Ordnung, aber dass wir deswegen die ganze Zeit zuhause bleiben, ist blöd. Mama und Papa reden schon seit Wochen von nichts anderem: wer alles kommt, woher wir die Tische und Stühle bekommen, was es zu essen gibt …

22. März, 17:14 Uhr
inge.mauer@web.de to susanne.klaasen@web.de
Leo kommt zu Marthas Geburtstag! Damit haben wir alle nicht gerechnet; schließlich hat er sich seit Ewigkeiten nicht mehr hier blicken lassen. Und genau genommen auch nichts von sich hören lassen – bis auf die Grüße, die er uns in seinen Geburtstagsbriefen an Toni ausrichten lässt. Ich bin ein bisschen nervös. Und freue mich, zugegeben …

22. März, 18:32 Uhr
hans.mauer@posteo.de to peter.klein@gmx.net
Leo kommt zu Mamas Geburtstag! Eigentlich hatte ich immer gehofft, dass er sich mit den Grüßen in den Briefen an Toni begnügt und uns sonst in Ruhe lässt. Es reicht schon, dass er dem Kind immer so einen Unsinn schreibt, für sie ist er zum reinen Märchenprinzen geworden. Ich glaube nicht einmal, dass er das extra macht, aber Denken war ja nie seine Sache. Und Taktgefühl schon gar nicht.

25. März, 14:54 Uhr
hans.mauer@posteo.de to peter.klein@gmx.net
Jetzt wird Leo auch noch bei uns übernachten. Ich wisse doch, sagt Mama, dass Leo kein Geld für ein Hotel hat und schließlich sei ich sein Bruder. Ich frage mich schon lange, wie viel sie ahnt. Aber vielleicht will sie einfach nichts wissen.

1.April, 09:42 Uhr
antonia.mauer@gmx.net to Greta2006@web.de
Onkel Leo ist schon angekommen und er wohnt sogar bei uns! Er sieht ganz anders aus als auf Mamas Foto, wo er in Rom neben dem Löwenkopf steht. Onkel Leo hat gelacht, als ich es ihm gezeigt habe. „Oje, ist das lange her“, hat er gesagt. „Ein anderes Leben!“ „Kannst du dich noch daran erinnern?“, hat er Mama gefragt. Komisch eigentlich – Leo ist doch Papas Bruder. Aber die beiden reden fast gar nicht miteinander.

2.April, 12:03 Uhrantonia.mauer@gmx.net to Greta2006@web.de
Tante Christel und Onkel Karl sind jetzt auch da, mit Melanie und Stefan. Aber ich habe keine Lust, mich um die Cousinen zu kümmern. Mit Onkel Leo ist es lustiger. Tante Chris hat behauptet, dass ich aussehe wie er in jung. Ich habe mich mit dem Foto vor den Spiegel gestellt – und ich finde, sie hat recht. Mama wohl nicht. Sie wurde ganz komisch, hat Tante Chris ganz wütend angesehen und nur „So ein Quatsch“ gefaucht.

3.April, 07:02 Uhr
hans.mauer@posteo.de to peter.klein@gmx.net
Antonia sieht Leo total ähnlich. Ich erschrecke mich jedes Mal, wenn ich die beiden zusammen sehe. Und Toni weicht nicht von seiner Seite. Die Ähnlichkeit scheint allen aufzufallen, Christel hat auch schon eine Bemerkung dazu gemacht. Inge kommt mir extrem nervös vor, kein Wunder. Richtig entspannt wird diese Feier wohl für uns beide nicht.

4.April, 10:23 Uhr
antonia.mauer@gmx.net to Greta2006@web.de
Heute ist Omis Geburtstag! Ich habe sie zusammen mit Onkel Leo mit einem Kuchen geweckt. Ich freue mich so, dass er da ist; er ist fast immer mit mir zusammen und gestern hat er gesagt, dass er mich mit nach Rom nehmen will! Da ist Papa aber ganz wütend geworden und hat ihn angeblafft, er solle nicht so einen Quatsch reden. Dann ist Mama mit Onkel Leo in den Garten gegangen und sie sind ganz lange weggeblieben. Ich will unbedingt mit nach Rom – es sind ja noch fast zwei Wochen Ferien!

4.April, 10:25 Uhr
inge.mauer@we.de to susanne.klaasen@web.de
Heute ist Marthas Geburtstag, aber ich habe das Gefühl, nicht sie, sondern Leo steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Seit Chris’ Bemerkung über die Ähnlichkeit zwischen Toni und ihm scheinen alle genau zu beobachten, wie Leo und ich miteinander umgehen. Vor allem natürlich Hans. Gestern hat er Leo als Kamel bezeichnet – vor Toni! Als sie nachgefragt hat, hat er nur geantwortet: „Wenn über eine dumme Sache, mal endlich Gras gewachsen ist, kommt sicher ein Kamel gelaufen, dass alles wieder runterfrisst“. Natürlich war das an Leo adressiert.

4.April, 18:00 Uhr
hans.mauer@posteo.de to peter.klein@gmx.net
Kannst du dir meine Stimmung vorstellen? Leo tut so, als wäre nichts. Und spielt den italienischen Lebemann, vor allem Toni gegenüber. Sie bildet sich ein, er würde sie für den Rest der Ferien mit nach Rom nehmen. Er weiß genau, dass ich das nicht mitmachen würde – und an Tonis Enttäuschung verschwendet er natürlich keinen Gedanken. Genauso wenig wie an meine Lage. Heute Abend rede ich mit ihm, wenn ich ihn mal allein erwische irgendwo.

5.April, 06:22 Uhr
antonia.mauer@gmx.net to Greta2006@web.de
Onkel Leo ist weg! Als ich ihn wecken wollte, war das Zimmer leer und der Koffer auch nicht mehr da. Mama hat nur gesagt, er wäre nachhause gefahren und sie wüsste nicht, warum. Aber ich glaube ihr nicht.

5.April, 19:02 Uhr
antonia.mauer@gmx.net to Greta2006@web.de
Eben habe ich das Mamas Foto von Onkel Leo zerrissen in Papas Papierkorb gefunden. Irgendetwas muss passiert sein!!!

Maren Jungclaus

Hilda

Prolog

…You do something to me
Something deep inside
I’m hanging on the wire
For love I’ll never find

I’m dancing through the fire
Just to catch a flame
Feel real again …

Das Wir indes, es kratzte an der Tür der letzten Totentänze, um die brüchigen Fassaden des ersten Lockdowns zu beschließen. Ich aber liebte den zweiten, regenerierte mich vom Krebs und war des Kapitalismus müde. Wir: das kapselte sich ab / und zu / und manchmal auch ein. Und nur vage noch, vage erinnerte es am Rand der neuen Welt an alte Gesichter, die auf halbem Weg verschütt’ gegangen waren.

1

Nach ihrem Schlaganfall im September 2020 war Hilda, wie man sie nannte, klar, dass sie jetzt ein bisschen eine Andere war als noch kurz zuvor. Auch diese Hilda machte bald wieder alles mit, auch, um das Offensichtliche zu verbergen, nämlich, dass sie jetzt ein wenig weniger Hilda war als noch 2019, same same but different.

Sie traute sich nicht mehr so recht über den Weg. Wenn sie ein Messer aus der Schublade nahm, dachte sie zum Beispiel „Gabel“, erschrak dann kurz und schämte sich still, weil irgendetwas nicht stimmte in dem Satz zwischen Bild, Wort und Welt. In solchen Momenten war Hilda dann völlig allein in sich, weil man so was Lächerliches ja beim besten Willen niemandem erzählen konnte. Genauso wie das mit rechts und links oder oben und unten … Mittelstein, Kantenstein, Eckstein. So ließ sie diesen Zauberwürfel ungelöster Wörter dann immer wieder stehen, um sich der Küchenarbeit zu widmen, weil es zu anstrengend ist, das Nichts weiterzudenken.

2

So oder so ähnlich musste sich auch Hildas Sohn, der Fassblender oder Fuzzy, wie er von allen liebevoll genannt wurde, Jahre zuvor gefühlt haben, als plötzlich — gerade war er noch allein gewesen — sehr viele fremde Menschen in seiner Küche standen, sich, ohne ein Wort zu sagen, im Raum verteilen und ihn anstarrten. Er hatte sich zwar gewundert, weil er niemanden eingeladen hatte, blieb aber das gute alte und offene Haus, das er eben war, und begrüßte die Fremden herzlich.

Der „Lange“ etwa, der stand dann aber stundenlang in der Ecke und verlängerte sich unaufhörlich, aber nie, nie! kam der Typ oben an der Decke an. Und das sagte der Fassblender auf der Wache auch der Polizei, die er, als es ihm schließlich zu bunt wurde in der Schweigsamkeit der vermeintlichen Genossen, zu Hilfe gerufen hatte, damit sie alle gefälligst! aus dem Haus entfernten. Denn es war schließlich sein Haus. „Gentlemen, gehen wir!“. Die beiden Herren Polizisten folgten ihm in die nahegelegene Wohnung und stellten fest: nichts. Prompt übersiedelte man Fassblender auf die Baumgartner Höhe, wo er eine Weile blieb, um seine Puzzleteile neu zu sortieren.

3

Man hatte Hildas Hände in dicke Mullbinden gewickelt und hoffte das Beste, nämlich, dass sie zu einer Sprache zurückfinden möge, die ihr vorübergehend abhanden gekommen war, da, in Zimmer 1408, auf der Beobachtungsstation der Neurochirurgie. Dass sie „kämpfen“ würde, wie man das eben so macht, wenn’s hart auf hart kommt.

An Hildas Bett stand ein Familienfoto: Helen, Bernd, Fassblender und sie bei einem Spanien-Urlaub 1998. Helen war etwas zu blass und dünn, Bernd hingegen rotgesichtig und beinah ungesund dick. Fassblender aber, mehr Seele als Mensch, stach neben dem Rest der Familie mit seinem neonfarbenen Anzug und dem goldenen Cap augenzwinkernd hervor. Er sah also blendend aus, was manchmal täuschte.

Während Hilda ihre Trümmer träumte, wartete man geduldig auf den Tag, an dem sie sich nicht mehr selbst aus Reflex ins Gesicht schlagen würde. Man sang und spielte ihr verschiedene Jahre vor, zum Beispiel 1979 The Hollies, auf dass sie sich erinnern möge, an den geilen Scheiß, die Unbeschwertheit damals, den nicht mehr vorhandenen Clou. Revival! — Die Hoffnung, Hilda würde erwachen aus dieser Warteschleife:

If I could make a wish, I think I’d pass
Can’t think of anythin‘ I need
No cigarettes, no sleep, no light, no sound
Nothing to eat, no books to read …

Dieser und andere Motivations- und Erinnerungssongs schleppten sich über Tage und Wochen unerhört durch’s Krankenzimmer. Auch Hildas Tochter Helen, die Tochter, die immer sang, wenn niemand zuhörte, sang ihr vor. Bernd, dem Mittleren, war hingegen noch nie nach Singen zumute gewesen, oder: er hätte es gar nicht gekonnt. Er zog sich zurück und regelte alles Weitere von außen, denn Regeln kannte und konnte er gut.

4

Ja, das Haus gehörte Fassblender. Dort wurde er geboren, dorthin kehrte er zurück. Zuletzt hatten er und Bernd noch zusammen das Torschloss repariert. Daraufhin schloss sich Fassblender von innen aus und zwei Fahrräder zusammen, die noch sehr lange innig aneinander gelehnt im Hof stehen würden.

„Ich bin der erste Mensch, der sein eigenes Haus besetzt, ich besetze mein eigenes Haus!“, hatte Fassblender in einem Heureka verlautbart und lehnte sich zufrieden zurück. Dann stand er schlurfig wieder auf und stellte eine Matratze vor’s Fenster. Diejenigen, die mit ihm drin saßen, in der Dachstube im Haus, stimmten ihm vergnügt zu und meinten, dass dies eine wirklich außergewöhnlich, außergewöhnlich! gute Idee sei.

Endlich wurde die Nudelmaschine wiederbelebt und die Nudeln zum Trocknen auf den Besenstiel gereiht. Dabei spielte man „Wenn ich mal sterbe, will ich…“. — „Dann will ich in einem Pfeifchen geraucht werden“, rief einer begeistert, und so ging es reihum. — „Wenn ich sterbe“, sagte Fassblender, „dann werde ich zum Produkt. Ein Knoppers oder eine Mannerschnitte vielleicht. Ich werde im Regal liegen und sagen: Einsamer Keks sucht Anschluss.“

5

Das Sprechen, die Musik und das alles, war überbewertet. Hilda war ja im Nirwana und das scherte sich nicht um Kategorien, weil es der Ort ist, „an dem die Gegensätze erlöschen“. Ein Fluidum, ein Flummi. Sie empfand den Piepton des EKGs, der sie kaum erreichte, als Grenztanz einer anderen, jetzt fremden Existenz. Dieser Tage gab es keinen Besuch mehr und wenn, dann waren die Regeln streng. Die Trümmerchen aus Bild und Ton überlagerten sich in einem diffusen Traum, nach dem sie ihre zuckende Hand ausstreckte, ihn aber nicht zu fassen bekam.

Die Welt da draußen war im Lockdown und Hilda im Locked-in. Input, aber kein Output. „Come in and find out“, höhnte ein Jingle aus dem Radio im Schwesternzimmer nebenan. Im anhaltenden Dämmerschlaf durchbohrte sie ein Gedanke wie ein Schnellschuss: „Der Fuzzy ist nicht mehr da!“. Ein sich sternförmig ausbreitender Schmerz im tiefsten Innern ihrer Biographie. Irgendwas in ihrem Hirn lachte kurz beißend auf und sie schnappte in die leere Luft, wie nach einer lästigen Fliege. Ihr eigenes leises Echo drangsalierte sie aus der Ferne.

Als Hilda viele Tage später erst wieder erwachte, fiel ihr Blick auf das Familienfoto. Sie bemühte sich sehr, alles wieder scharf zu sehen, aber es gelang ihr nicht. Fassblender war irgendwie verblasst, wie hinter Milchglas, schemenhaft nur zu sehen. — „Ich muss dir was sagen, Mutti …“. Helen stand an ihrer Seite und hielt ihre Hand. Hilda drehte den Kopf weg und schlief sofort wieder ein.

Epilog

In diesen Tagen verzeichnete Wir: „Das Jahrhundert läuft aus.“ Dass alles rückläufig sei, was fortschritt. Dass die Uhr sich wiederhole bis zur Unkenntlichkeit, dass sie verrückt würden, die Gesichter, da, hinter’m Zaun. Ich konstatierte: „L0VE“ würde von nun an mit Null geschrieben, die Wörter in Zahlen codiert, wie frierende, große Tiere. Als alles Tiefschürfende einschlief, so flüchtig in sich, dass Sterben kein Ort ist, verzehrte es sich in den Sperrbezirken, das Wir, hinter Viren, und hielt sich im Zaum.

Fassblender verzichtet.

Fassblender verblicht.

Fassblender bricht aus.

… And as long as
The wind blows
The tides flow
Along

Under a blue sky
On a new wave
In a new world
Today …

Sina Klein

Die Revision

Man kennt diese Haltung. Erwartungshaltung, schau mal, was ich geschafft hab’, Papa, Mama, so toll, so viel, das hab’ ich gemacht, das hab’ ich gemalt. Seid ihr stolz auf mich?

Als ich meinem Vater das größte Ei ins Nest gelegt habe, an das ich mich erinnern kann, habe ich nicht so geguckt. Wie mein Vater geguckt hat erinnere ich nicht mehr. Ich glaube, er war vollständig damit beschäftigt, den Schaden zu begrenzen. Ich kam später dran.

Die Siebziger Jahre in einem riesigen Betonklotz, in dem sich die örtliche Filiale der Bundesbank, die Landeszentralbank, befand. Mein Vater war hier ein paar Jahre vorher zum Filialleiter ernannt worden, deshalb wohnten wir jetzt in diesem großen Klotz. Das klingt schlimmer, als es war. Wir hatten eine großzügige Wohnung, ein Kinderzimmer mit Blick auf den einzigen Kreisverkehr der Kleinstadt und einen großen Balkon. Einen Garten hatten wir allerdings nicht, denn der betonierte Hof hinten raus wurde von den Geldtransportern genutzt. Wenn die Sicherheitsbeamten sich die Säcke mit dem Kleingeld zuwarfen, um sie danach ins Gebäude zu schaffen, ertönte ein sanftes Klingeln.

Als kleine Wiedergutmachung für all den Beton hatte die Bank einen relativ großzügigen Sandkasten spendiert, für die insgesamt drei Kinder im Haus. Für meine Schwester, mich und Ralf, den Sohn vom ersten Kassierer. Ich verstand mich meistens gut mit Ralf, bis auf jene Tage, an denen wir Streit hatten und er mir das Gesicht zerkratzte. Das kam häufiger vor, aber zum Glück nicht an diesem Tag.

An diesem Tag hing was in der Luft. Mein Vater war ein bisschen nervös, wie immer, wenn „Revision“ war. Dann kamen seine Chefs aus Duisburg und kontrollierten, ob die Kasse stimmte. Diesmal, so hörte man, sollte ein ganz besonders hohes Tier mit dabei sein. Ich war damals ungefähr fünf, das heisst, mein Vater war so ungefähr seit ein bis zwei Jahren bei der Landeszentralbank. Als Neuling wollte er seine Sache gut machen, klar. Wenn die was finden wollten, fänden sie was. Aber meistens schauten sie dann doch nicht so genau hin. Hoffentlich!

Die „Revision“ war angekommen, wir sahen es an dem glänzenden weißen Mercedes, der sonst nicht auf dem Hof stand. Ralf und ich langweilten uns im Sandkasten, wir hatten unsere großen metallenen Schaufeln dabei und waren mal wieder genervt von den Birken. Die wuchsen nämlich mitten in unserem Sandkasten und die weit verzweigten Wurzeln im Sand machten richtig emsiges Graben unmöglich. Beim Graben stieß man immer sofort auf eine Wurzel und blieb darin hängen. Dabei war der Sand an sich super, er war goldfarben und pappte perfekt. Er pappte genauso gut wie der Schnee, den man für Schneebälle braucht.

Wir langweilten uns immer noch. Schönes Auto. Ob der Sand wohl an den Scheiben kleben bleiben würde? Oder er auch dort so gut pappte? Wenn das klappen würde, dann wäre es bestimmt ziemlich cool darin, man könnte nicht mehr nach draussen gucken, man säße im Wagen wie in einer Höhle. Wir wollten das mal ausprobieren: “Komm Ralf, wir schmieren jetzt den Sand auf die Scheiben.” Wir waren ein Weilchen damit beschäftigt, aber so kräftig wir auch den Sand auf die Scheiben drückten, er pappte nicht, sondern fiel immer wieder herunter. Am besten funktionierte es noch auf der Front- und Heckscheibe. Den Sand, der da runterrutschte, konnte man dann ja über den Kühler mit der Schaufel wieder nach oben schieben. Knirsch, knirsch, kratz, kratz, so arbeiteten wir fröhlich und gewissenhaft mit unseren metallenen Schaufeln am Auto. Auf dem Lack. Kratz, kratz.
Leider fiel immer wieder etwas herunter, weshalb wir immer neuen Sand holen mussten. Wir kamen nicht wirklich voran, obwohl der Sandkasten mittlerweile schon halb leer war, weil die andere Hälfte des Sandes auf oder neben dem Mercedes lag. Es würde schwierig werden. Wir würden es wohl nicht schaffen. Wir hatten keine Lust mehr.

Wir schmissen unsere Schaufeln auf den Beton unten im Sandkasten und beschlossen, im Treppenhaus abzuhängen. Wir könnten auch hoch zum gruseligen Speicher gehen und schauen, ob wir dort auf neue Ideen kommen würden. Als wir fast an unserer Wohnungstür angelangt waren, öffnete sich unten die Haustüre und die „Revision“ trat ein. Eine kleine Delegation von Männern in Anzügen und mit Schnurrbärten. Sie waren auf dem Weg in den Hof. Ich war ein bisschen sauer auf sie. Was bilden die sich eigentlich ein, warum kommen die hier an und machen auf wichtig? Wegen denen war mein Vater so nervös gewesen. Blödmänner! Einer der Männer hatte eine ganz kreisrunde Glatze. Sie leuchtete aus dem unteren Treppenhaus in den ersten Stock.
So rund. Ob man die wohl treffen könnte? Mitten rein? Aber womit? Ich hatte keinen Ball, keine Papierkügelchen, nichts dabei. Ich hatte Spucke. Spucke hat man immer. Probieren. Platsch! Mitten rein. Wirklich, in die Mitte. Ich weiß noch, wie der Kopf zusammenzuckte. Wir drückten uns mal lieber an die Wand.

Kurz darauf sah der Mann aus der großen Stadt, der Mann mit Anzug, Schnurrbart und nasser Halbglatze seinen Wagen auf dem Hof.

Meinem Vater wurde geraten, er solle seinen Sohn besser erziehen. Dann machte sich die Revision an die Arbeit. Sie schauten ganz genau hin. Die Kasse stimmte nicht. Man würde wiederkommen.
Ich bekam zum einzigen Mal in meinem Leben Hausarrest. Also Wohnungsarrest, nicht mal auf den Hof, bitte schön. Eine Woche lang. Ich weiß nicht, ob meine Eltern das durchgehalten haben. Wahrscheinlich durfte ich schon vorher wieder raus.

Mein Vater bekam einen Beförderungsstop. Wir sollten für immer in der Kleinstadt wohnen bleiben. Mir gefiel es dort ganz gut.

Tobi Dahmen

Überall Zukunft

FUTUR I
Juli 2016
Die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt strahlt am frühen Abend eine Sondersendung aus. „Militärputsch in der Türkei. Am Vortag Anschlag in Nizza. Uns erreichen äußerst beunruhigende Nachrichten aus der Türkei. Es gibt Gerüchte, dass dort ein Putschversuch des Militärs im Gange sei. Was wir wissen, ist zur Zeit, in Ankara waren offenbar Schüsse zu hören, Kampfhubschrauber kreisen über der türkischen Hauptstadt. In Istanbul sind offenbar beide Brücken über den Bosporus gesperrt. Unbestätigte Berichte sagen, die Polizei wird entwaffnet. Twitter-Meldungen bestätigen den Militärputsch. Wie groß und wie weit der reicht, weiß man noch nicht, aber es ist wohl ein offener Kampf innerhalb des Militärs.
Es ist ganz offen, was passieren wird.“

HEIMAT
In der Mitte von Düsseldorf gibt es eine Insel.
Auf würzigen Feldern grasen Ziegen und Schafe.

SCHWARZER SCHNEE
Mein Name ist Isabelle Kaya.
Ich erzähle meine Geschichte.
Wie es war und nicht wie es sein könnte.
Wenn ich an den letzten Abend mit meiner Mutter denke, erinnere ich mich an ihre Hände, die weiße Bohnen wuschen. Kleine Tränen Wasser kullerten ihren zierlichen Handrücken herunter. Sie stand in unserer Küche, einem kleinen dunklen Raum. In der Mitte ein großer eiserner Ofen. Dieser Ort meiner Kindheit roch köstlich. Oft nach frisch gebackenem Fladenbrot. Ich erinnere mich, wie es mir gefiel, die Sesamkörner wie schwarzen Schnee auf das Brot fallen zu lassen.

Erst der Akt des Erinnerns macht ein Gedächtnis möglich.
Ich habe so oft an meine letzten Erinnerungen gedacht und jetzt wusste ich gar nicht mehr, ob sie Wirklichkeit waren. Es mochte sein, dass die Zeit mich täuschte.

*

Es war noch dunkel, als mein Vater mich ins Auto trug und mit mir nach Deutschland fuhr. Ich kann mich noch daran erinnern, dass Baba sagte, die Fahrt würde achtzig Stunden dauern. Er erklärte, das wären vier Nächte und drei Tage. Ich zählte das zusammen. Das Ergebnis war sieben. Eine ganze Woche.
An viel mehr kann ich mich nicht erinnern. Außer an das Wort „Gastarbeiterroute“, das klang lustig. Und dass ich auf der Autobahn Geburtstag hatte. Es war eine traurige Fahrt. Baba weinte oft. Die Tränen kamen wie aus dem Nichts und fluteten ihn. Ich traute mich nicht zu fragen, warum Maman nicht mit uns gekommen war.
Als wir über die deutsche Grenze fuhren, wusste ich nicht, dass hier meine neue Heimat sein sollte und ich das Land meiner Geburt für eine sehr lange Zeit nicht wiedersehen würde.
Bei der Abfahrt aus Istanbul war ich fünf Jahre alt, bei der Ankunft in Deutschland war ich sechs.

*

ISABELLE
Wie gesagt, mein Name ist Isabelle Kaya und ich habe mein ganzes Leben in Deutschland verbracht. Wenn ich mich richtig erinnere.

BABA
Mein Vater ist Harun Kaya. Er ist Kranführer.
Als ich neun Jahre alt war, durfte ich an einem Sonntag mit hinaufsteigen. Das war toll. Ein großartiges Gefühl, von oben auf die Welt hinunter zu schauen. Die Menschen waren so klein.
Harun Kaya, mein Vater, ist ein registrierter Terrorist, weil er Kurde ist.
Alle Kurden sind für die türkische Regierung Terroristen, das war schon vor Erdogan so. Und das war der Grund, warum wir, als ich fünf Jahre alt war, Hals über Kopf, in der Nacht, unsere Heimat Istanbul verlassen mussten, glaube ich.
Baba war ein politisch engagierter Schauspieler in der Türkei, bevor er nach Deutschland kam und auf der Baustelle arbeitete.

MAMAN
Ihr Name ist Anette. Anette Thomas.
Meine Mutter stammt aus Bossugan, einem Dorf südlich von Bordeaux. Bossugan kommt auf 47 Einwohner und drei Schlösser, die versteckt zwischen grünen Hügeln liegen. Nicht weit entfernt brachen die Wellen des Atlantischen Ozeans. Die Dünen glitzerten silbrig in der Sonne und trennten das Meer vom Pinienwald.
Ich war noch nie in Bossugan. Ich war überhaupt noch nie in Frankreich. Das mit den Dünen und den drei Schlössern hatte ich auf der Internetseite „France Voyage“ entdeckt.

Die stärkste Erinnerung an Anette Thomas ist der Name, den sie mir geschenkt hat, Isabelle. Das ist auch die einzige Erinnerung, auf die ich mich verlasse.
Erst der Akt des Erinnern gründet ein Gedächtnis.
Aber beruhen frühe Erinnerungen in Wahrheit nicht auf Erzählungen Anderer? Erinnerungen können erzeugt werden. Man zeigt Erwachsenen manipulierte Bilder aus ihrer Vergangenheit und sie erinnern sich daraufhin an Dinge, die nicht stattgefunden haben.

Ich erinnere mich verschwommen an meine Mutter. Hinter der Spinnennetzfolie des Fotoalbums lauern viele leere zigarettengelbe Seiten und eine Handvoll fotografisch festgehaltener Momente, Millisekunden. Tausendstel. Hunderttausendstel.
Als Kind war Maman für mich bunt. Mit der Zeit verblasste sie, bis sie schließlich nur noch eine schwarz-weiße Person auf ausgeblichenem Fotopapier war. Eine schwarz-weiße Person aus einem fremden Leben, in einem fremden Land. Eingesperrt in einem Bild. Auf allen Fotografien, es sind vier, eigentlich fünf, rechnet man das Hochzeitsfoto, welches in Babas Nachttischschublade liegt, mit, trägt sie ihre schwarzen Haare fest zu einem Pferdeschwanz gebunden. Durchsichtige Haut, dunkle Augenringe, abgemagert und von kleiner Statur. Sie schien für immer zu verschwinden. Nur in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Stärke. Wenn ich ihr Foto ansah, was ich stundenlang tat, als ich noch klein war, schien ihr Blick sich nur auf mich zu richten. Um mir etwas mitzuteilen. Mir, das einzig Wichtige, das Essentielle mitzugeben. Doch ich verstand nicht, was sie mir sagen wollte.
Als ich klein war, dachte ich immer, Maman wäre schrecklich krank. Krebs oder so. Als ich etwas älter wurde, dachte ich, sie wäre verrückt geworden und gestorben. An schwarzem Herzen. Auf einer Fotografie war ihre Wimperntusche zu einem breiten schwarzen Streifen verschmiert. Sie sah aus, als sei sie hinter Gittern.
Sie war nicht gestorben, jedenfalls nicht im herkömmlichen, allgemeinmedizinischen Sinne.
Sie war am Leben.
Doch für mich blieb sie verschwunden.
Über 20 Jahre lang.
Ein Foto von mir gehört auch zu dem dünnen Stapel. Ich weiß gar nicht, wie es dort hineingeriet. Als ob mich irgendwer zu Maman stecken wollte. Seht her, das sind Mutter und Tochter! Sie gehören wirklich zusammen.
Doch auch diese Erinnerung ist nur Einbildung, Teil meiner Fata-Morgana-Familie.
Auf dem Bild sitze ich hinterm Steuer unseres Autos, einem weißen Opel. In diesem Wagen feierte ich Geburtstag und kam nach Deutschland. Verdeckt sitzt Baba an einem Campingtisch vor unserem Zelt. Ich denke, dass es unser Zelt ist, erinnern kann ich mich nicht. Sind wir nicht nonstop von Istanbul nach Hamburg gefahren? Nur mal kurz auf Toilette gehen, Benzin nachfüllen, Wasser kaufen. Zitternd auf der Rückbank, nicht angeschnallt, gekrümmt, der Zigarettenqualm, verheult, Maman, warum bist du nicht hier?
Zelten. Einpacken, auspacken, anhalten, aufbauen, abbauen, wegfahren.
Wo soll das gewesen sein? Bulgarien, Jugoslawien oder schon Österreich?
Beruhen Erinnerungen nicht auf Erzählungen Anderer?

ÜBERALL ZUKUNFT
Es war unmöglich, mir meinen Vater jung oder rebellisch vorzustellen.
In Deutschland war er ein Unsichtbarer, ein Gastarbeiter mit eingezogenem Kopf, kraftlos in einen Arbeitsanzug gesperrt, mit Bloß-nicht-auffallen-Pass ausgestattet. Er achtete penibel darauf, alle Gesetze und Gebote des Gastlandes zu befolgen. War er krank, fuhr er anstatt zum Arzt zur Baustelle.
Als ich das erste Mal beim Schwarzfahren erwischt wurde, reagierte er, als habe ich einen Mord begangen. Er zog die schweren Vorhänge zu und redete nicht mehr mit mir. Das Gras, das über die Sache wachsen sollte, wuchs langsam und bevor es eine Wiese wurde, erwischten die Kontrollettis mich ein weiteres Mal. Ein Dutzend Arbeitsstunden im Altenheim inklusive zwei tote Omas im Kellerraum aufbahren beschäftigten mich die nächsten Wochen. Ich hatte viel Zeit nachzudenken und fasste den Entschluss, mich nie wieder erwischen zu lassen. Und Baba, der beschloss, die Zugbrücke zu seinen Herzen hochzuziehen. Ich wusste, dass er mich nur beschützen wollte. Ich war ungezähmt, wild, wurde schnell wütend. Ich wollte auf keinen Fall unsichtbar werden. Ich war hier und jetzt und wollte überall zeitgleich sein.
Nicht auffallen war das Eine und Integration das Andere. Ich sollte gefälligst eine Heimat finden, denn Heimat war sehr wichtig. „Heimat ist da, wo das Herz schlägt“, sagte Baba jeden Abend, wenn er mich zu Bett brachte.
Nicht auffallen, aber integrieren funktionierte irgendwie nicht so bombig. Jedenfalls nicht bei mir. Die Kita-Erzieherinnen sprachen von mir als „munterem Kind, das neugierig auf die Welt“ sei. Ich bin keine Psychologin, aber vom Hier und Jetzt aus betrachtet, denke ich, sie meinten eher biestig und sauer. Ich lernte schnell Deutsch und wurde etwas weniger sauer. Wild und ungezügelt blieb ich. Sauer wurde ersetzt durch traurig. Warum, kann man sich denken.

BESUCH
Wir bekamen nie Besuch.
Ich durfte keine anderen Kinder mit nach Hause bringen. Baba erlaubte mir aber, nach der Schule mit meinen Freundinnen mitzugehen. Er war ja immer auf der Baustelle.
An den Wochenenden übernachtete ich meistens bei meinen Freunden. Bei denen war es so gemütlich, die lebten richtig in ihren Wohnungen, wogegen Baba und ich eher in einer Hotelzimmerwohnung schliefen. Und was die Anderen alles zuhause durften!
Einige Freundinnen nannten ihre Eltern beim Vornamen und sagten „Du, Frederike, können wir Pokémon gucken?“ oder „Du, Olaf, können ich und Isabelle noch mehr Cola?“. Otto und Ben, die alleinerziehende Sibylle, Kami und Emiel, Banu und Dieter und wie sie alle hießen. Ich liebte die Vornamen und benutzte sie gerne. Ich rief sie laut durch die Stadtwohnungen. Ich liebte meine vielen neuen Familien, alle meine Babas, alle Mamans, mes soeurs und mes frères.
An diesen Wochenenden aß ich mit den neuen Familien gemeinsam zu Abend. Bei Baba und mir aß jeder, wenn er Hunger hatte. Die eine Familie kam am Küchentisch zusammen, die andere im Wohnzimmer. Banu und Dieter hatten eine riesige Bar, auf der das Essen wie bei einem festlichen Buffet angerichtet wurde. Die Bar hatte Banu selbst entworfen und gebaut.
Es waren fantastische Ländermix-Gerichte. Chinesisch-dänische Küche, türkisch-deutsche, indisch-marokkanische, deutsch-portugiesische. Vegetarisch, vegan, Ziegenfleisch und Rinderzunge, Käsefondue und Königsberger Klopse, Ragout fin, Fischpastete und Pasta, wie die Nutten sie mögen. Straußenfleisch-Burger, Seetang und äthiopisches Injera.

Das Wohnen mit Baba war wie ein Leben aus einer alten, vergessenen Epoche, die es nur in Büchern gab. Ein staubiger Lampenschirm, ein verschlissener Orientteppich unter einem Glastisch vom Sperrmüll. Mit jedem Jahr entfernte ich mich einen Schritt weiter von meinem Vater. Irgendwann würde er nur noch ein kleines Männchen am Horizont sein, bevor er ganz verschwand. Doch auch wenn mich der Sturm von ihm wegtrieb, ich ruderte dagegen an, von Zeit zu Zeit, in schlaflosen Morgenstunden, nach alptraumhaften Nächten. Könnte er nicht mein Leuchtturm sein, das helle Licht am Ende der Welt?

Er war nicht immer so. So… heimatlos? Kraftlos? Ausgepustet? Erstickt?
Es gab ein anderes Leben, ein Leben mit Maman, ein Leben vor mir und sogar ein gutes Leben mit mir. Ein Leben in Istanbul. Ich versuchte, mir aus den wenigen Bruchstücken, die er ab und an liegen ließ, mein Bild von ihm zusammenzusetzen. Laufen gelernt haben meine Bilder nie. Sie liegen vor mir und ergeben wenig Sinn. Bruchstücke. Als wir neu in Deutschland waren, habe ich Baba viele Fragen gestellt. Antworten gab es nicht. Als ich 14 wurde, wünschte ich mir von ihm nichts und alles. Die Wahrheit, die Geschichte meiner Eltern. Ich wollte ihn verstehen und lernen, mich selber zu verstehen. Am Tag meines Geburtstages stand auf dem Küchentisch eine Handtasche aus Leder, schwarz, verziert mit silbrigen Steinchen, ohne Geschenkpapier. Er sagte „Doğum günün kutlu olsun, herzlichen Glückwunsch“. Keine Antworten, keine Wahrheit. Ich fasste die Tasche nicht an. Tage später war sie verschwunden. Ein Zwanzig-Euro-Schein auf eine Tafel Milka-Vollmilchschokolade geklebt ersetzte sie.
Ich nahm das Geld und aß die Schokolade. Das Geld versteckte ich. Ich würde es noch brauchen. Damals wollte ich zum ersten Mal abhauen.
Das Wenige, was ich wusste, war, dass wir das Land unserer Väter verlassen mussten. Baba sagte Sätze wie: „Es gibt kein Zurück. Deine Mutter hat sich gegen uns entschieden. Gegen dich.“ Irgendwann wiederholte Baba nur noch den einen Satz, ausdruckslos sagte er: „Die Wärme in meinem Land ist verloren gegangen. Ich musste gehen.“ Und irgendwann wollte ich gar nichts mehr hören. Meine Eltern wurden mir egal. Meine Mutter hatte mich im Stich gelassen, als fünfjähriges Kind, und mein Vater hatte, um seine Haut zu retten, alles verlassen, was er liebte, und nun hatte er als Strafe mich am Hals.
Mein Bild von der Türkei und vor allem von Istanbul erschuf ich durch Zeitungsartikel. Ich wählte in der Schule bei Projektarbeiten das Thema „Istanbul in den Neunziger Jahren“. Alle Türken auf meiner Schule kannten mehr Geschichten über die Türkei als ich. Und das waren noch nicht mal Türken, die sind alle hier geboren. In einem Kreißsaal, in einem Krankenhaus, in Düsseldorf, Deutschland, EU. Baba und ich machten nie Ferien in der Türkei und auch sonst nirgendwo. Ich fuhr alleine mit dem 739er Bus mit Ferienpass ins Stadtteil-Freibad.
Was ich weiß, ist, dass mein Vater den Putsch von 1980 erlebt hat, als junger Mann. Damals war er in linken Künstlerkreisen aktiv, wo er Maman kennenlernte. Bei einem Wohnprojekt. Sie hat fotografiert, war Fotografin. Nur wenige Fotos sind mir von ihr geblieben. Ich habe mich immer gefragt, ob durch die Bedrohung des Staates ein Riss durch unsere Familie ging. Und wenn ja, was macht so ein Riss? Reißt er den Körper in der Mitte durch, in zwei gleichgroße Hälften? Einbeinig, unfähig zu gehen, einarmig, unfähig zu umarmen? Hatte mein Vater meine Mutter verraten? Oder umgekehrt? Waren sie Spione? Für wen und was hat wer, wann und warum verraten? Wollte er sie retten oder sie ihn? Hat er sich geopfert oder sie sich? Oder bin ich das Opfer? Hat mich Maman nicht geliebt? Warum ist sie nicht nachgekommen? Wollten sie mich beschützen vor dem Geheimdienst oder vor Baba oder vor …?
Ich musste damit aufhören. Mit den tosenden Fragen, die mir den Verstand wegspülten, die mich zerrissen, ausspuckten, mich auslachten, mich reizten, mich betrogen, mich verführten und verhörten.
Spekulationen! Verschwörungen, die irgendwann zur Wahrheit werden würden. Nicht zur wahrhaftigen Wahrheit. Nur zu meiner Wahrheit. Das ist Tatsache. Das ist Bewusstsein. Diese Erkenntnis ist meine Rettung. Sie wiegt schwer, ist traurig. Doch eine andere Lösung kenne ich nicht. Keine Rettungsgasse, keine Weggabelung, keine Schüssel voller Gold am Ende des Regenbogens. Rien! C’est la vie.
C’est ma vie.
Mein eigenes Leben.
Ohne Maman.
Ohne Baba.
Nur Ich. Isabelle.
Die Entscheidung habe ich getroffen.
Zukunft ist überall.
Das ist meine Zukunft.

Jonny Bauer

Mount Everest

„Der Mount Everest“ rief er, als wir bei Tische waren, „der Mount Everest“ rief er, als wir vor dem Fernseher saßen, „der Mount Everest“ rief er immerzu, das wäre ein Berg, den man doch erklimmen müsse, einmal wenigstens im Leben und dann könne man ja wieder runter. So rief es Onkel Danni, mit der Alpinistik sonst weiter nichts am Hut, aber der Mount Everest, der hatte es ihm angetan. Der hatte einen Klang, wie ihn sonst nur wenige Dinge haben auf der Welt: Moby Dick zum Beispiel, der heilige Gral oder auch das goldene Vlies, all jene Sehnsuchtsziele also, denen sich seit Jahrhunderten schon die Menschen – vor allem aber doch Männer – verschrieben hatten, so auch Onkel Danni. Seit ich ihn kannte, also seit immer schon, ließ er nicht locker mit diesem Berg, da Onkel Danni nun mal ein Sturkopf war, renitent von Kopf bis Fuß, ein geborener Querulant. Ärger hatte er deshalb schon zu allen Zeiten und an allen Orten gehabt, nicht zuletzt natürlich in der Liebe – fünf mal hatte er ja gesagt und fünf mal auch wieder nein.

Aber Visionen hatte er, der Onkel Danni, und das war in diesem Landstrich durchaus eine Seltenheit. Er träumte von diesem und jenem, von nun wirklich allerlei, aber die Vision mit dem Berg, dem Mount Everest, die war bei Weitem seine größte und auch, durchaus, schwachsinnigste. Worin sein Drang zum Abenteuer begründet lag, darüber konnte nur gemutmaßt werden und wild spekuliert, schließlich war diese Familie, die auch meine Familie war, nicht bekannt für Eskapaden und Kapriolen. Im Gegenteil: Unser Stammbaum war seit Generationen eine Ansammlung von Duckmäusern und Leisetretern gewesen, so gern ich sie auch, mitunter, hatte. „Sonderling“ hieß es also oft bei den Feiern und den Anlässen, beim Umtrunk und in der Kirche, ein „Sonderling“ wäre er, der Onkel Danni, an sich ganz nett, aber garantiert meschugge. Nur zu mir hatte er, der Onkel Danni, einen guten Draht und ich zu ihm und so zwinkerten wir uns zu, hier und da, oder nickten uns zu, in der stillen Übereinkunft, dass WIR doch aus gänzlich anderem Holze wären als DIE. So waren wir im Geheimen Verbündete – verabredet zu einer Mission, deren Ziel wir selbst nicht kannten. Als Hauptsache galt: nieder mit der Tristesse! Nieder mit der Provinz! Darauf zwei Schnaps und drei Olé, wie es hier so Usus war, in diesen Breitengraden, wo die einzige Gefahr es war, vor lauter Langeweile den Tod zu finden.

Es war also ein Tag wie jeder andere Tag, ein Tag, der nichts außer bloß gewöhnlich war, an dem ich Onkel Danni, warum auch immer, eine Reise vorschlug und ich sagte Reise, als ginge es über weite Meere oder durch die Tropen – und nicht bloß ein paar Kilometer weit der Nase nach. Onkel Danni, der nicht recht verstand, dem aber alles Unbekannte Ansporn war, rief „Los geht’s“ ohne auch nur kurz zu zögern und so besiegelten wir, mit einem Handschlag und drei Olé, unseren Deal. Jede Reise allerdings, darin stimmten wir beide überein, braucht auch einen Tross, eine Entourage, die Wasser trägt und in die Gegend schaut und so versammelten sich mit uns: ein Kollege, von dem Onkel Danni häufig sprach, wobei mir en détail schleierhaft war, was sie beruflich verband, dazu seine Zieh-Tochter, die Unvermeidliche, welche die Sache mit den Manieren noch zu lernen hatte, und zuletzt die Grande Dame de la Famille, deren Namen nichts zur Sache tut, die zwar reich geboren war, ihr Geld aber auch schnell wieder verloren hatte. Insgesamt also ein wahlloser Trupp, der sich sicher nie wieder so versammeln würde. Was diese Leute antrieb, sich mit uns auf den Weg zu machen, erschloss sich mir nicht bis ins Letzte, sicherlich aber trug das Gefühl von Aufbruch und Tatendrang, das Onkel Danni und ich zweifellos verbreiteten, einen entscheidenden Teil dazu bei.

Als Ziel unserer Expedition hatte ich den Toten Mann auserkoren, der der höchste Gipfel im Umkreis war und dessen Namen eigentlich alles über diese Gegend sagte. Schnee lag meterdick, was für April ungewöhnlich war, aber das Ambiente von Abenteuer nur verstärkte. Während des Aufstiegs sangen wir weder Lieder noch führten wir Gespräche. Stoisch und schweigend gingen wir Meter für Meter voran, bis wir nach zwei Stunden oder dreien auf dem Gipfel waren, wo es windig war und kalt. So recht wollte uns allerdings nicht einleuchten, was hier oben jetzt zu tun war. Über uns der weite Himmel, unter uns das sinnlose Dorf, aus dem wir kamen. Wir hatten es gewagt und die da unten nicht. Das immerhin ist doch was, das ist doch nicht nichts. Ich machte ein Foto, aber niemand schaute in die Kamera. Onkel Danni, sagte ich, das war doch zumindest ein Anfang. Der Mount Everest war es zwar nicht, aber der wird auch in ein paar Jahren noch an Ort und Stelle stehen. Und schließlich ist auch Abenteuer etwas, wie so viele Dinge im Leben, das man üben muss und nicht einfach von Geburt an kann. Onkel Danni aber sagte nichts und starrte in die Ferne, dorthin, wo die Winde peitschten.

Felix Krakau

Mein Fahrrad ist wichtiger als Deutschland

Meine Eltern haben mindestens zwei Entscheidungen getroffen, die mich auf den richtigen Weg brachten. Einen Fernseher schafften sie erst an, als Bücher bereits unverrückbarer Bestandteil meines Lebens waren. Da war ich elf, und bald wurde Schreiben mein Werkzeug, um mit der Welt klarzukommen. Und statt uns alle zu Beginn der Sommerferien in ein Flugzeug oder ins Auto zu stecken, brachen sie mit meinem Bruder und mir zu mehrtägigen Radtouren auf, die für uns ein größeres Abenteuer waren als alles, was die TKKG-Truppe erlebte. Im Fernseh-Fall war ihnen der pädagogische Zweck der Maßnahme völlig klar. Was das Radfahren betrifft, suchten sie vermutlich nur nach einem einfachen Weg, regelmäßige Aufenthalte an der frischen Luft und zügiges Einschlafen in der Jugendherberge sicherzustellen.

Was sie mir darüber hinaus auf dem Rad mitgaben, ist ihnen nie bewusst gewesen. Wie wahnsinnig gut diese Idee mit den gemeinsamen Touren ist, fiel mir erst später auf. Es ist der einzige Urlaub, der mit dem Abschließen der Haustür einsetzt, weil die erste Etappe die Anreise ersetzt. Danach zeigt sich, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Fahre ich vorne und trage Verantwortung für das rechtzeitige Abbiegen? Ruhe ich mich hinten im Windschatten aus? Geht mir das alles viel zu langsam, so dass ich mich entschließe, alle anderen weit hinter mir zu lassen?

Noch heute kommt mir der Tag an der Mosel in den Sinn, als die zuvor flache Strecke mit einem Mal weg vom Fluss durch für uns Niederrheiner horrendes Mittelgebirge führte. Damals wurde mir klar, dass ich es besser fand, mich mit acht Stundenkilometern einen Berg hochzukämpfen, als abzusteigen und zu schieben, obwohl beides ähnlich würdelos aussah. Als ich es auf den Gipfel und wieder ins Tal geschafft hatte, wartete ich ein paar Minuten auf meinen Bruder und eine Stunde auf meine Eltern. Zum ersten Mal merkte ich, dass sie alt wurden. Der Körper, der noch zulegen konnte, war meiner.

Mein Bruder war eher so der Erik-Zabel-Typ. Keinen einzigen Sprint gewann ich gegen ihn. Meine Stärke lag darin, einfach nie mit dem Treten aufzuhören. Ich trat nicht besonders schnell, aber ich trat und ich wurde nie müde. Nach einem zur Legende aufgestiegenen Brechanfall im Schulbus fuhr ich bis zum Abi mit dem Rad zum Gymnasium im Nachbarort. Ich fuhr auch zum Zivildienst und zur Arbeit nach Düsseldorf, als mir der Stau auf der A52 zu viel wurde. Nicht ein einziges Mal, nicht beim stärksten Regenschauer, entmutigte mich die Aussicht, gleich noch aufs Rad steigen zu müssen, um nach Hause zu kommen.

Bis heute bin ich nie ernsthaft mit dem Rad auf die Fresse geflogen. Sogar bei den wenigen Fällen von Schneefall im Flachland hielt ich das Gleichgewicht. Wie schlecht auch immer es mir sonst ging – und mein Gedankenkarussell sorgte dafür, dass es mir regelmäßig schlecht ging – auf dem Rad fühlte ich mich unangreifbar. Hier konnte mir nicht das Geringste passieren. Bis dann doch etwas passierte. Zu einer Zeit, als auch mein Körper längst nicht mehr zulegen konnte, fuhr ich einen winzigen Anstieg hinauf. Normalerweise wäre das eine Sache von zwei, drei Tritten gewesen, plötzlich aber musste ich vom Rad steigen, weil meine Beine nicht mehr wollten. Das kannte ich nicht. In den Wochen zuvor hatte ich vage Symptome wie Kurzatmigkeit beim Treppensteigen noch abgetan, jetzt wurde mir klar, dass es ernst um mich stand. Hier wurde ich in meiner Burg angegriffen. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren machte ich einen Termin beim Hausarzt. Als es darum ging, die Blutwerte zu besprechen, klappte ich auf dem Weg zu ihm einfach zusammen. Nein, die Blutwerte waren nicht gut. Im Krankenhaus halfen sie mir zwei Wochen lang wieder auf die Beine. Dass ich noch mal davongekommen war, glaubte ich erst, als ich mich wieder aufs Rad setzte und den Hügel hinauffuhr, ohne auch nur aus dem Sattel zu gehen.

Sebastian Dalkowski