Man kennt diese Haltung. Erwartungshaltung, schau mal, was ich geschafft hab’, Papa, Mama, so toll, so viel, das hab’ ich gemacht, das hab’ ich gemalt. Seid ihr stolz auf mich?
Als ich meinem Vater das größte Ei ins Nest gelegt habe, an das ich mich erinnern kann, habe ich nicht so geguckt. Wie mein Vater geguckt hat erinnere ich nicht mehr. Ich glaube, er war vollständig damit beschäftigt, den Schaden zu begrenzen. Ich kam später dran.
Die Siebziger Jahre in einem riesigen Betonklotz, in dem sich die örtliche Filiale der Bundesbank, die Landeszentralbank, befand. Mein Vater war hier ein paar Jahre vorher zum Filialleiter ernannt worden, deshalb wohnten wir jetzt in diesem großen Klotz. Das klingt schlimmer, als es war. Wir hatten eine großzügige Wohnung, ein Kinderzimmer mit Blick auf den einzigen Kreisverkehr der Kleinstadt und einen großen Balkon. Einen Garten hatten wir allerdings nicht, denn der betonierte Hof hinten raus wurde von den Geldtransportern genutzt. Wenn die Sicherheitsbeamten sich die Säcke mit dem Kleingeld zuwarfen, um sie danach ins Gebäude zu schaffen, ertönte ein sanftes Klingeln.
Als kleine Wiedergutmachung für all den Beton hatte die Bank einen relativ großzügigen Sandkasten spendiert, für die insgesamt drei Kinder im Haus. Für meine Schwester, mich und Ralf, den Sohn vom ersten Kassierer. Ich verstand mich meistens gut mit Ralf, bis auf jene Tage, an denen wir Streit hatten und er mir das Gesicht zerkratzte. Das kam häufiger vor, aber zum Glück nicht an diesem Tag.
An diesem Tag hing was in der Luft. Mein Vater war ein bisschen nervös, wie immer, wenn „Revision“ war. Dann kamen seine Chefs aus Duisburg und kontrollierten, ob die Kasse stimmte. Diesmal, so hörte man, sollte ein ganz besonders hohes Tier mit dabei sein. Ich war damals ungefähr fünf, das heisst, mein Vater war so ungefähr seit ein bis zwei Jahren bei der Landeszentralbank. Als Neuling wollte er seine Sache gut machen, klar. Wenn die was finden wollten, fänden sie was. Aber meistens schauten sie dann doch nicht so genau hin. Hoffentlich!
Die „Revision“ war angekommen, wir sahen es an dem glänzenden weißen Mercedes, der sonst nicht auf dem Hof stand. Ralf und ich langweilten uns im Sandkasten, wir hatten unsere großen metallenen Schaufeln dabei und waren mal wieder genervt von den Birken. Die wuchsen nämlich mitten in unserem Sandkasten und die weit verzweigten Wurzeln im Sand machten richtig emsiges Graben unmöglich. Beim Graben stieß man immer sofort auf eine Wurzel und blieb darin hängen. Dabei war der Sand an sich super, er war goldfarben und pappte perfekt. Er pappte genauso gut wie der Schnee, den man für Schneebälle braucht.
Wir langweilten uns immer noch. Schönes Auto. Ob der Sand wohl an den Scheiben kleben bleiben würde? Oder er auch dort so gut pappte? Wenn das klappen würde, dann wäre es bestimmt ziemlich cool darin, man könnte nicht mehr nach draussen gucken, man säße im Wagen wie in einer Höhle. Wir wollten das mal ausprobieren: “Komm Ralf, wir schmieren jetzt den Sand auf die Scheiben.” Wir waren ein Weilchen damit beschäftigt, aber so kräftig wir auch den Sand auf die Scheiben drückten, er pappte nicht, sondern fiel immer wieder herunter. Am besten funktionierte es noch auf der Front- und Heckscheibe. Den Sand, der da runterrutschte, konnte man dann ja über den Kühler mit der Schaufel wieder nach oben schieben. Knirsch, knirsch, kratz, kratz, so arbeiteten wir fröhlich und gewissenhaft mit unseren metallenen Schaufeln am Auto. Auf dem Lack. Kratz, kratz.
Leider fiel immer wieder etwas herunter, weshalb wir immer neuen Sand holen mussten. Wir kamen nicht wirklich voran, obwohl der Sandkasten mittlerweile schon halb leer war, weil die andere Hälfte des Sandes auf oder neben dem Mercedes lag. Es würde schwierig werden. Wir würden es wohl nicht schaffen. Wir hatten keine Lust mehr.
Wir schmissen unsere Schaufeln auf den Beton unten im Sandkasten und beschlossen, im Treppenhaus abzuhängen. Wir könnten auch hoch zum gruseligen Speicher gehen und schauen, ob wir dort auf neue Ideen kommen würden. Als wir fast an unserer Wohnungstür angelangt waren, öffnete sich unten die Haustüre und die „Revision“ trat ein. Eine kleine Delegation von Männern in Anzügen und mit Schnurrbärten. Sie waren auf dem Weg in den Hof. Ich war ein bisschen sauer auf sie. Was bilden die sich eigentlich ein, warum kommen die hier an und machen auf wichtig? Wegen denen war mein Vater so nervös gewesen. Blödmänner! Einer der Männer hatte eine ganz kreisrunde Glatze. Sie leuchtete aus dem unteren Treppenhaus in den ersten Stock.
So rund. Ob man die wohl treffen könnte? Mitten rein? Aber womit? Ich hatte keinen Ball, keine Papierkügelchen, nichts dabei. Ich hatte Spucke. Spucke hat man immer. Probieren. Platsch! Mitten rein. Wirklich, in die Mitte. Ich weiß noch, wie der Kopf zusammenzuckte. Wir drückten uns mal lieber an die Wand.
Kurz darauf sah der Mann aus der großen Stadt, der Mann mit Anzug, Schnurrbart und nasser Halbglatze seinen Wagen auf dem Hof.
Meinem Vater wurde geraten, er solle seinen Sohn besser erziehen. Dann machte sich die Revision an die Arbeit. Sie schauten ganz genau hin. Die Kasse stimmte nicht. Man würde wiederkommen.
Ich bekam zum einzigen Mal in meinem Leben Hausarrest. Also Wohnungsarrest, nicht mal auf den Hof, bitte schön. Eine Woche lang. Ich weiß nicht, ob meine Eltern das durchgehalten haben. Wahrscheinlich durfte ich schon vorher wieder raus.
Mein Vater bekam einen Beförderungsstop. Wir sollten für immer in der Kleinstadt wohnen bleiben. Mir gefiel es dort ganz gut.
Tobi Dahmen