Ich schaue mir alte Bilder an. Was mir auffällt, ist nicht das Einmalige der eingefangenen Szenen, sondern die Art der Darstellungen. Wie sich in den Farb- und Lichtverläufen, der Beschaffenheit des Abzugspapiers, dem Muster der Sitzgarnituren, Tapeten und Tischdecken etwas wiederholt, das ich kenne. Staubpartikel, die im Nachmittagslicht zu „Jakobs Krönung“ tanzen. Die Einzelheiten heben sich auf und verwischen einander wie die Landschaft um ein Kettenkarussell, das Fahrt aufnimmt.
Es mag am Alter liegen. Dem der Abzüge, vor allem aber an meinem. Sich bereits an mehr zu erinnern, als man vermutlich noch erleben kann, macht, dass man Dinge anders sieht. Der nostalgische Schick einer Sepiafärbung und des Analogen weicht dem Eindruck von Vergangenem. So beginnt Geschichte, denke ich. Wenn niemand mehr da ist, der sich erinnert.
In ihrer Auseinandersetzung mit Horkheimer und Adorno schreibt die französische Philosophin Corine Pelluchon, dass das Negative der Dialektik der Aufklärung sich in dem Moment verwirkliche, wenn die Vernunft sich in der bloßen Quantifizierung von Dingen selbst erniedrige. – Jenseits dessen, freilich, hat die Vernunft wenig festzustellen. Was über den Zufall hinausreichen will, braucht Häufigkeit. Körper von Gewicht. Etwas, das sich vor dem Gegner auftürmen ließe. Erst durch ihre Exemplarität erhält die Anekdote einen Sinn. Irgendwo müssen die Widersprüche enden. Je mehr Tote, desto mehr Sinn.
Also fängt man an, sich Tiefe zu versprechen. Irgendein Familiengeheimnis, das auf diesen Bildern ausgetuschelt würde. Das Puzzlestück, das dem Ganzen eine Bedeutung, ein Schlüsselmoment, der endlich Aufschluss gäbe. Ohne dass man sagen könnte, worüber.
Dabei ist erschütternd nur die Belanglosigkeit der Vorfälle, aus denen Geschichte sich zusammensetzt. Auch die eigene. Nicht in ihren Folgen, aber doch in ihren Gründen. Deren Banalität rührt daher, dass die einzelnen Dinge meist nicht böse gemeint sind. Hannah Arendt zum Beispiel konnte Adorno nicht leiden. – Die Geschichten, die wir uns erzählen sollten, sind selten die, die wir zu hören bekommen. Und oberflächlich wie unser Wunsch nach Sepiafärbung. Obszön wie der Digitalprint einer 70er-Jahre-Tapete von Manufactum oder IKEA.
Das Dritte Reich meiner Großmutter erstreckte sich zwischen Stalingrad und Mutter-Kind-Abteil. Mutter-Kind-Abteil, weil sie, damals bereits mehr oder weniger stolze Mutter von drei Kindern, ein eigenes Abteil zugesprochen bekam, als sie mit der ganzen frontversetzten Vaterlosigkeit ihrer improvisierten Kleinfamilie und aus Gründen, die ihr nicht sehr freimütig über die Lippen kamen, die lange Fahrt von Düsseldorf nach Wien antrat. Unbehelligt.
Und unbehelligt auch, was sie wiederum gerne erzählte, wie sie sich dort durch die Straßen bewegte. Auch abends. Als Frau. Dass sich dies für viele ihrer Mitbürger damals anders verhielt – auch für Männer, auch am helllichten Tag, denn nicht alles war schließlich Nacht oder Nebel – hat sie durchaus wahrgenommen. Was aber hätte sie tun sollen? So allein als Mutter von drei Kindern? Sie hatte es schließlich auch nicht leicht.
Diese Dinge sah meine Großmutter ganz ausgewogen. Auch nach dem Krieg. Sicher ist nicht alles richtig gewesen, sagte sie, aber so einen kleinen Adolf, den würde sie sich schon manchmal noch wünschen. Auf längeren Bahnreisen zum Beispiel. Oder wenn sie nach dem Kaffeetrinken abends im Dunkeln allein nach Hause lief.
Stalingrad, weil der Mann, der der Vater ihres dritten Kindes hätte sein sollen, es aber nicht war, dort kämpfte. Und sie seit Hitlers Überfall auf Russland ganz alleine war mit den damals noch zwei Kindern. Wie gesagt, sie hatte es auch nicht leicht.
Und das ganze Reich ein Rangierbahnhof junger Männer. Dazwischen ein junger Österreicher, der soviel hermachte in seiner Uniform. Gut habe der Mann, der mein Großvater wurde, es aber nicht hätte werden dürfen, ausgesehen in seiner Montur. Schneidig. – Die Sprache wächst mit ihren Aufgaben.
Was hätte sie also tun sollen? Es war ja auch nicht sicher, dass der Mann zurückkehren würde, der mein Großvater hätte sein sollen, es aber nicht wurde. Mit Hitlers Überfall auf Russland war der Krieg verloren. Das hätten alle gewusst. Nur laut gesagt hat es keiner. An einigen ihrer Aufgaben scheitert die Sprache. So wie der, ihrem im Sommer 1943 geborenen Sohn zu sagen, wer denn nun sein Vater sei.
Weshalb nach dem Krieg meine Großmutter noch gut zwei Jahre jeden Abend mit dem nach wie vor nicht festgelegten Buben an der Hand zur Litfaßsäule am Ende ihrer alten Wohnstraße lief, an die die Kriegsheimkehrer handgeschriebene Zettel klebten, auf denen sie ihr Überleben erklärten und sich nach dem Verbleib ihrer in den Rauchruinen nicht auffindbaren Familien erkundigten.
Und während sich um sie herum Familien in die Arme fielen, während die Umstehenden weiter hoffnungsvoll ihre Hälse nach neuen Aushängen reckten, stand meine Großmutter ganz still und mit dieser Angst im Nacken da, dass ihr erster Mann am Ende doch noch zurückkehren und sie in Erklärungsnöte bringen könnte. Es gibt Aufgaben, denen will die Sprache sich gar nicht erst stellen.
Sie hatte Glück. Der Mann, der mein Großvater hätte sein sollen, es aber nicht war, kam nicht wieder. Der ist in Stalingrad geblieben, wie es heißt. So funktioniert Geschichte, denke ich. Was geschah, ist so niemals passiert.
Und ich frage mich, ob, woher und zu wem der Mann auf dem Foto, das ich ausgewählt habe, zurückgekehrt ist. Welche Angst ihm dabei im Nacken saß. Und ob er sich am Ende genauso freuen konnte wie meine Großmutter.
Ich frage mich auch, woher ich all diese Geschichten kenne. Als Kinder saßen wir, von den Erwachsenen getrennt, am Katzentisch. Heute frage ich mich, wen man da vor wem beschützen wollte.
Was man am Erwachsenentisch lernen konnte:
Dass man es auch nicht leicht hatte.
Dass man die Dinge nicht ungeschehen machen kann.
Dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt.
Dass nicht alles schlecht gewesen ist.
Und dass wir froh sein können, es so gut zu haben.
Durch die schnelle Unterwerfung ganzer Landstriche im Blitzkrieg, die Rohstoffe, derer man dadurch habhaft wurde, sowie den Einsatz der Gefangenen als Zwangsarbeiter gelang es dem Deutschen Reich bis weit in den Krieg hinein die Versorgungslage der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten. Vom Krieg war über Jahre einfach wenig zu spüren.
Wirklich schlecht, sagte meine Großmutter immer, sei es ihr erst nach dem Krieg gegangen.
Aus dieser Zeit auch die nicht zu stillende Versessenheit meiner Großmutter auf echten Bohnenkaffee, Cognac und alles, was sich mit Butter backen, braten und bestreichen ließ.
Beim Fressen wird der Nachkriegsdeutsche überindividuell bis zur Geschichtlichkeit.
Im November 1989, fast auf den Tag genau drei Wochen nach dem Mauerfall, wurde ich in eine Spezialklinik für Essstörungen eingeliefert.
Als 2004 der Kunsthistoriker und Autor Nikos Stangos starb, fand sein Partner David Plante Aufzeichnungen und Bilder in dessen Nachlass. Darunter auch eine Notiz:
Please make these fragments meaningful.
Es war nicht ersichtlich, an wen diese Bitte gerichtet war.
Inge Müller, die im April 1945 bei einem der letzten Luftangriffe der Alliierten auf Berlin unter den Trümmern ihres Elternhauses verschüttet und erst drei Tage später geborgen wurde, schrieb:
Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch;
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch.
Im Mai 1945 endete der zweite Weltkrieg.
1966 hat Inge Müller sich das Leben genommen.
Ich wurde im Sommer 1990 aus der Klinik entlassen.
Meine Großmutter starb 1998 am 50. Geburtstag meiner Mutter.
The Pure Lover, David Plantes Buch über Nikos Stangos, erschien 2010.
Ich frage mich, wann das Foto, für das ich mich entschieden habe, aufgenommen wurde, und was den Menschen darauf passiert ist, das so niemals geschah.
Und wie sie wohl gestorben sind.
And who by fire, who by water […]
Who in your merry, merry month of May
Who by very slow decay. […]
Who for his greed, who for his hunger
And who shall I say is calling?
Und dass es immer zu spät sein wird. Zum Glück.
Alexander Konrad