An einem sonnigen Apriltag des Jahres 1961 beschloss mein Hamster zu sterben. Er stakste in die linke Ecke des Käfigs, schleppte seinen flauschigen Körper zum Wassernapf und ertränkte sich. Statt meine Tränen zu trocknen, drückte meine Mutter mir einen Dauerlutscher in die Hand und begrub Johnny in der Mülltonne. Noch heute, 127.864 Lichtjahre entfernt, sehe ich sie flattern, die rußgrauen Bettlaken auf der Leine im Hinterhof, und ich höre Martha Cerwinski aus dem Haus gegenüber rufen: „Na, Karlchen, ob dir der Osterhase wohl einen neuen Hamster bringt?“ Ich nahm einen Hammer, erschlug mein Sparschwein und kaufte mir einen Colt.
Die Eingangstüre von „Spielwaren Wacker“ lag an einer so sonnigen Ecke, dass selbst die langen Schatten der Zeche Haxenbruch sie nicht erreichen konnten. Ein Fundus des Wundersamen wand sich entlang einer steilen Wendeltreppe in die Tiefe und setzte an, das Dunkel des Erdreichs mit bunten Klötzchen zu bekämpfen. Meinem spärlichen Reichtum entsprechend hätte ich mich beim Regal hinter der Kasse umsehen müssen, dort, wo einarmige Teddybären und radlose Matchboxautos um ihr Recht kämpften, nach einer kurzen Phase des Bespieltwerdens auf dem Dachboden in selige Vergessenheit zu geraten. Stattdessen stopfte ich mein Taschengeld von drei Mark und zweiundfünfzig Pfennig tiefer in die kurze Latzhose. Bevor mir die glasigen Blicke einer Puppenfamilie, garantiert keine B-Ware, Schuldgefühle in den Rücken bohren konnten, nahm ich den Weg nach unten. Denn wenn der tote Hamster in der Mülltonne mich etwas gelehrt hatte, dann das: Das Leben war nicht fair, das Leben war endlich. Mit einer schnellen Bewegung stahl sich mein hämmerndes Herz in das Dickicht eines Kleiderständers. Es quietschte. Zwischen Gendarmerie-Uniformen im Miniformat und Kasperle-Hüten tastete ich nach den Colts in ihren scharfkantigen Plastik-Holstern. Hier im fünften Untergeschoss flossen Raum und Zeit ineinander, bis nur noch ein vages Gefühl der Nostalgie für meine Zukunft übrig blieb. Durch die Fransen einer Cowboyweste beobachtete ich, wie der Vater von Jan-Philipp Somersberg einen Computer, Modell Learn-Tec 3000, aus der Vitrine holen ließ. Jan-Philipp Somersberg war der schönste Junge der Welt. Er punktete mit braunen Locken und Sommersprossen, ich hingegen glänzte mit schlechten Noten in Sport und hinterlistigem Heuschnupfen. Vier Verkäufer:innen umschwärmten den Vater von Jan-Philipp. Während sich die Spiegelung meiner verrotzten Nase im Fuße des Drehständers verzerrte, erledigten meine Hände auf Autopilot ihren Job. Keine drei Minuten später stand ich oben an der Kasse und erlöste für zwei Mark und sechsundvierzig Pfennig einen einohrigen Plüschhasen von seinem Platz auf der Resterampe. Draußen stieg ich auf meinen Tretroller. Das linke Auge des Hasen baumelte im Takt der Schlaglöcher aus seiner Höhle. Klack, klack, klack. Ich musste pinkeln, weil sich der Spielzeug-Colt unter meinem Hemd in die Blase grub. Es war viel zu warm für einen Apriltag.
Diese Art, geschickte Besorgungen zu machen, nenne ich bis heute das Jan-Philipp-Somersberg-Prinzip. Ich scoute einen Ort, an dem ich mich unauffällig für eine unbestimmte Zeit aufhalten kann. I keep hidden in plain sight. Ich warte und warte and whilst you watch that attractive guy in the corner räume ich die Auslage des Juweliers aus. Mein Platz an der Seitenlinie sichert mir ein gutes Einkommen als StarSheriff. StarSheriffs sind Meister:innen der Interzeption und Manipulation. Wir reisen von Planet zu Planet, always on the run, eine Division in Einsamkeit, always prepared. Früher, als wir noch auf der Erde lebten, hätte man uns Archivierungsvollstreckungsbeamt:innen genannt. But we are much more punk than that.
Als mein Colt und ich zu Hause ankamen, erschien mir unser Hinterhof stickiger denn je zuvor. Es gab Graupen zum Abendessen. Ich träumte von einer Welt, in der Hamster nicht sterben mussten. Es wurde Sommer, es wurde Weihnachten. Es gab Graupen, es gab Spanisch Fricco. Mein Haar wurde länger, so lang, dass es am Hinterkopf klebte. Weihnachten war warm, der Sommer wärmer. Wir schwitzten, wenn wir abends an den Mülltonnen saßen und das Flirren der Mücken beobachteten. Jingle Bells. In der Schule hatte Jan-Philipp begonnen, sich Stifte von mir zu leihen. Am Nachmittag übte ich das Zielen mit meinem Colt, nachts träumte ich von Jan-Phillip. Das Radio in der Küche brummte rund um die Uhr, seit Grönland mit seiner Flotte die Nordwestpassage besetzt hatte. Einmal am Tag las uns Martha Cerwinski die Computernachrichten vor. Wir hatten keinen Farbbildschirm, nur ein Televox. Ich lieh Jan-Philipp meine Stifte und meine Mutter nähte dem Hasen das Auge an. Klack. Ich wurde älter und „Spielwaren Wacker“ schloss. Die Hitze stieg unerbittlich. In der Nordwestpassage tobte der Krieg und in unserer Küche mäanderte das Schweigen. Martha Cerwinski war alt, doch meine Mutter konnte jeden Tag in die Armee eingezogen werden. Am Nachmittag übte ich das Zielen mit meinem Colt und nachts träumte ich von Jan-Philipp. Der Krieg rauschte in unseren Köpfen bereits lauter als das Radio, doch meine Mutter saß immer noch in unserer Küche. Ich wurde älter und Jan-Philipp träumte von mir. Grönland forderte Unterstützung aus Deutschland an und Martha Cerwinski fuhr meine Mutter zur Airbase nach Scholven-Süd. Ich wurde älter und Jan-Philipp ging nach der sechsten Stunde mit Annabell Flözmann nach Hause. Als die Hitze am Weihnachtsabend zäh wie Rübenkraut in unsere Schlafzimmer kroch und meine Hoffnungen auf einen Brief aus Grönland unter sich begrub, heuerte ich bei StarInc an. Silvester 1964 verbrachte ich auf der dunklen Seite des Mondes. Am Nachmittag übte ich das Zielen mit meinem Colt und nachts träumte ich von Jan-Philipp.
Um als lizensierter StarSheriff ein eigenes Schiff zu unterhalten, ist es neccessary, von Zeit zu Zeit einen BigHit zu landen. Auf einen BigHit ist ein BitGeld von fünf Millionen Yen ausgesetzt. Ab und zu drehe ich ein krummes Ding on the side, einen LittleHit. StarInc weiß, dass wir den von uns erwarteten Lebensstil unmöglich mit dem mickrigen Honorar eines BigHits pro Quarter bestreiten können. Corporate ist das egal – und mir eigentlich auch. Ich mag die LittleHits; mein Schiff habe ich in einem LittleHit erbeutet. Auch ein LittleHit erfordert Finesse, obwohl er deutlich profanere Ziele verfolgt als ein BigHit. Diese Finesse ist es, die uns StarSheriffs letztendlich von den Archivierungsvollstreckungsbeamt:innen unterscheidet, I suppose. Proficiency is power.
Nach Silvester kam Weihnachten. Immer noch kein Brief aus Grönland. Die dunkle Seite des Mondes war dunkler als dunkel. Martha Cerwinski folgte dem Hamster – wenn auch nicht in die Mülltonne, so doch in ein zweites Leben. Dunkel, dunkel, dunkel. Am Nachmittag übte ich das Zielen mit meinem Colt und nachts träumte ich von Jan-Philipp. Im Sommer 1969 verlieh StarInc mir einen glitzernden Stern, ich hatte meine Ausbildung zum StarSheriff mit Auszeichnung bestanden. Exquisite Perfection of Inter-Perception and General Misguidance. Ich war bereit für die Jagd durch Zeit und Raum, bereit für die Suche nach – SLURP.
Bevor wir uns falsch verstehen: Wir jagen keine Dinge, wir jagen keine Crimes. Wir suchen in parallelen Timelines nach humanitären Ideen, um unsere Galaxie zu retten. Wir konservieren Minuten und Wissen aus der Alten Welt. Wir stehlen Zeit. Während wir unsere Victims mit einer rührseligen Story fesseln, scannen wir via Telekinevision ihre Gedanken. Und wenn wir auf lohnende Erkenntnisse treffen, saugen wir sie ab: SLURP.
Ich hatte nie einen Hamster. Ich heiße nicht Karlchen. „Spielwaren Wacker“ lag stets im Schatten, in einer der dunkelsten Straßen der Stadt. Meine Mutter hat den Krieg überlebt, Martha Cerwinski zog es nach Waikiki. Jan-Philipp Somersberg war nicht schön, und nichts von dem, was ich erzählte, ist wahr. SLURP. SLURP. SLU-
Laura Jil Beyer