Prolog
Mein Bruder und ich hatten als Kinder ein Verhältnis, das ich – gelinde gesagt – als distanziert bezeichnen würde. Wir lebten zwar unter einem Dach, gingen uns aber, bis wir in die Spätpubertät eintraten, aus dem Weg, wann immer dies möglich war. Wir grüßten uns nicht einmal, wenn wir uns in unserem Elternhaus begegneten. Bis zu dieser einen Nacht im Sommer, Ende der 1980er Jahre. Ich war 15 oder 16 Jahre alt und kam kurioserweise von der gleichen Party nach Hause, auf der auch er gewesen war, und wir, wie immer, als Fremde aneinander vorbeigelaufen waren. Als ich damals die Haustür aufschloss, stand er schon im Flur, auch gerade heimgekehrt, und sagte „Hallo“. Was hier banal klingen mag, bedeutete für uns damals mehr Intimität als alles, was wir sonst in den vorhergegangenen zehn Jahren ausgetauscht hatten. Aus dieser völlig unerwarteten Begrüßung folgte eine Nacht, in der wir über alles Mögliche sprachen, Rotwein aus dem Wohnzimmerschrank unserer Eltern tranken und Musik hörten, bis die Sonne aufging. Von dem Zeitpunkt an war alles anders. Wir teilten anschließend sogar einige Jahre den gleichen Freundeskreis. Aber das ist eine andere Geschichte. Denn eigentlich möchte ich erzählen, wie es meinem Bruder gelang, mich musikalisch zu sozialisieren – und das, ohne auch nur ein einziges Wort mit mir zu sprechen.

Teil 1: Erste Inspiration
Wir schreiben die frühen 1980er Jahre. Ich bin wahrscheinlich in einer Art präpubertären Phase, definitiv noch erheblich mehr Kind als Teenager. Mein drei Jahre älterer Bruder hat schon ein erheblich höheres Entwicklungslevel erreicht. Und das kann ich vor allem hören. Wann immer er nach Hause kommt, presse ich mein Ohr an die Wand, die unsere Kinderzimmer voneinander trennt oder lausche heimlich an seiner Tür. Der Grund dafür: Ich möchte möglichst viel von der zunächst noch etwas fremdartig anmutenden, aber gerade deshalb so faszinierenden Musik aufschnappen, die neuerdings ständig in seinem Zimmer dröhnt. So etwas bekomme ich im Radio niemals zu hören. Zumindest nicht tagsüber auf WDR 2, dem Lieblingssender meiner Mutter. Ich verstehe rein gar nichts von diesem für mich komplett neuen Sound. Da ist eher ein sehr vages Gefühl, dass diese Klänge eventuell mein Leben verändern könnten.

Teil 2: Aktion
Dieses Gefühl treibt merkwürdige Blüten und mich dazu, in die Leihbücherei zu laufen, die mir immer wieder Antworten auf die zahlreichen Fragen liefert, die mir ständig durch den Kopf geistern. Auch dieses Mal werde ich fündig: Mir fällt eine in Neonfarben gehaltene Kassette in die Hände, auf der irgendwas von „Bollocks“ steht und die ich sicherheitshalber ausleihe. Wieder daheim höre ich sie an, getrieben von einem diffusen Gefühl, das irgendwo zwischen Neugier, Verstörung und Begeisterung zu verorten ist. Und dann weiß ich es plötzlich genau: Das will ich hören, will ich sein, was auch immer es ist! Für diese Erkenntnis hat mir ganz offensichtlich mein großer Bruder den Weg geebnet. Mir wird schnell klar, dass ich ihm dafür auf ewig dankbar sein muss.

Teil 3: Konkretisierung
Wir schreiben inzwischen Mitte der 1980er Jahre. Während meine nichtsahnenden Klassenkameraden immer noch Rolf Zuckowski und seine Freunde sowie „Ronny’s Popshow“, alte Abba-Platten aus der Schrankwand ihrer Eltern oder bestenfalls Nick Kershaw, Wham! oder Duran Duran hören, habe ich bereits einen ersten Einblick beziehungsweise kleine, vorsichtige Schritte in das unendliche Universum der Independent-Musik gewagt. Ich weiß, was abgeht, und dass das Leben erheblich mehr zu bieten hat als Ilja Richter oder Dieter Thomas Heck. Und ich bin kurz davor, es voll auszukosten.

Teil 4: Erinnerungen
Wir schreiben die 20er Jahre des neuen Millenniums und ich blicke zurück, ohne Ärger. Mein Bruder war weder Punk noch Popper, Skater, Grufti, Waver, Hardrocker oder Heavy Metal-Freak. Seine Plattensammlung enthielt vielmehr einen bunten Mix der Independent-Musik der 1980er. Ob Christian Death und Cult, Cure, Wall of Vodoo, Sonic Youth, Echo and the Bunnymen, die Beastie Boys oder Joy Division: Er hatte in seiner kleinen, aber feinen Plattensammlung alles zu bieten, was das Herz eines zukünftigen „Kassettenmädchens“ höher schlagen ließ.
Und so schlich ich mich immer wieder auf Zehenspitzen in sein Zimmer und schaute mir seine für mich heiligen Schätze an, sobald er das Haus verließ. Vorsichtig zog ich die Vinylscheiben aus ihren Covern, pustete den Staub weg und legte sie mit zitternden Fingern auf den Plattenspieler. Ich setzte den Tonarm auf und lauschte mit angehaltenem Atem dem Knistern. Vor Angst entdeckt zu werden – wir sprachen zu dieser Zeit schließlich kein einziges Wort miteinander –, drehte ich den Lautstärkeregler am Verstärker immer ganz runter und presste mein Ohr an die Box, um möglichst nichts zu verpassen. Und dann reiste ich in das für mich seinerzeit noch völlig unentdeckte Terrain der Adoleszenz, malte mir aus, wie es sein könnte, auf Partys zu gehen, mit einem total coolen Boy zu tanzen und ein Teil von all dem zu sein, von dem ich eigentlich noch überhaupt keine Ahnung hatte.
Erwischt wurde ich nie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Bruder bis heute nicht weiß, was ich in seiner Abwesenheit in seinem Zimmer trieb. Als ich dreizehn Jahre alt war, bekam ich eine Kompaktanlage zu Weihnachten geschenkt und entdeckte diesen kleinen Plattenladen in meinem Vorstadt-Viertel. Und natürlich Hitsville, den besten Record Store der Stadt, in dem ich mich kaum traute einzukaufen, weil mir vor lauter Ehrfurcht vor seinem Besitzer bei der Order zuweilen die Stimme versagte. Von nun an gab ich einen Großteil meines Taschengelds für eigene Platten aus und musste mich immer seltener in das Zimmer meines Bruders schleichen, um seine zu hören. Trotzdem vergesse ich ihm nie, was er beziehungsweise seine Plattensammlung für mich getan haben. Ohne sie wäre meine Liebe zur Musik und vor allen Dingen zu Vinyl niemals so ausgeprägt, wie sie es heute ist. Mit Sicherheit hätte ich nicht Platten aufgelegt, wie ich es später einige Jahre mit viel Leidenschaft getan habe. Vielleicht hätte ich nicht all die tollen Clubs und mit ihnen die spannenden Menschen kennengelernt, die mein Leben so bereichert und mir all die prägenden Erfahrungen beschert haben.

Epilog
Heute fehlt mir meist die Zeit, mich meiner Plattensammlung zu widmen und ihr die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient hätte. Dabei könnte ich wieder reisen, aber dieses Mal in viele wunderbare Erinnerungen, die ich mit der Musik verbinde; den Platten, die mein Leben geprägt haben. Einige von ihnen hörte ich das erste Mal im Zimmer meines Bruders.

Katja Vaders