Ob ich denn ein Brüderchen oder Schwesterchen haben möchte, wurde ich oft von Leuten gefragt, als ich ein Kind war. Ich schüttelte stets den Kopf und betonte, dass ich lieber eine Schildkröte hätte. Dieser Wunsch wurde mir leider nie erfüllt. Zu einem Geschwisterchen kam es glücklicherweise auch nicht. Ich hätte mir niemals vorstellen können, meine Mutter mit einem anderen Kind teilen zu müssen. Wenn ich nicht an ihrem Rockzipfel hing, spielte ich mit meiner einzigen Freundin, die ich Tineline nannte. Sie hatte wie ich braune, glatte Haare und wurde von mir beneidet, da sie ihr bis zur Taille reichten. Vor allem ihr langer, die Augen verdeckender Pony hatte es mir angetan. Meine Haare wurden kurz gehalten, denn meine Mutter vertrat die Auffassung, dass mein feines Haar so kräftiger werden würde. Was zur Folge hatte, dass man mich dauernd für einen Jungen hielt – sehr zu meinem Leidwesen. Tineline und ich malten gerne. Oft saßen wir mit unseren Zeichenblöcken im Garten auf grünen Spaghettistühlen, deren wäscheleinenartige Sitzflächen unsere Oberschenkel zwickten und die Kleider einklemmten.

Irgendwann zog ich mit meinen Eltern um und verlor meine Freundin aus den Augen. In der neuen Gegend lernte ich zwei Mädchen kennen: die beiden Barbaras. Wir besuchten dieselbe Klasse und waren bald unzertrennlich. Man nannte uns die 3 Bs. Unsere freien Nachmittage – und von denen gab es viele – verbrachten wir auf den Feldern hinter den Häusern und als die Felder langsam zugebaut wurden, in den Rohbauten. Eltern haften für ihre Kinder. Ich haftete nicht mehr an meiner Mutter. Wenn wir keine Lust auf Baustelle hatten, nahmen wir uns die Riesenkiesel aus dem Steingarten der Nachbarn vor. Wir donnerten sie mit voller Wucht auf den Asphalt, bis sie zerbrachen und bewunderten dann das glitzernde Innenleben. Oder wir hopsten Gummitwist. Wenn wir ausgehüpft hatten, spielten wir Schuhgeschäft. Dafür nahmen wir die Steine aus dem Steingarten und zwirbelten sie mit dem Gummitwist-Gummiband an unseren Füßen fest und wackelten wie auf High Heels durch die Gegend. Ladys im Geiste. Unpassenderweise musste ich meine Haare immer noch kurz tragen. Rundschnitt hieß der Cut. Die kleine Barbara hatte dieselbe Frisur in blond, die große geflochtene Zöpfe. Die beiden malten leider nicht so gerne wie ich. Wenn ich Figuren zeichnete, dann automatisch mit der Frisur von Tineline.

Wir Bs wurden größer und die Haare länger. An Tineline erinnerte ich mich mittlerweile mit einem Hauch von Hochmut. Jungs spielten plötzlich eine gewisse Rolle und nachdem mich eines traurigen Tages mein langjähriger Freund verlassen hatte, ließ ich mir die Haare auf eigenen Wunsch kurz schneiden und startete eine Affäre mit dem Frisör. Ich ging oft nach Feierabend zu ihm in den einsamen Salon, war also die letzte Kundin des Tages, woraufhin es ungestört zu mehr als Haarpflege kommen konnte. Er nannte sich Dirk. Ich fragte nach seinem Nachnamen und er antwortete verschmitzt „Bach“. Nicht zuletzt die Tatsache, dass wir uns in Köln befanden, ließ mich an der Richtigkeit des Namens zweifeln. Dirk raunte mir ins Ohr, dass er am Liebsten mit mir abhauen würde. Ich wäre ohne mit der Wimper zu zucken mit ihm durchgebrannt, versäumte aber, mich zu erkundigen, warum es nie dazu kommen sollte. Vermutlich war eine Frau im Spiel. Als ich einmal auf dem Frisierstuhl saß, verabschiedete sich seine Kollegin mit den Worten: „Grüß Tineline schön von mir!“ Erschrocken dachte ich, sie würde mich meinen. Was natürlich Quatsch war, wie sich schnell herausstellte, denn dem Frisör rutschte das betörende Lächeln aus dem Gesicht. Ich ließ fortan den Salon links liegen und die Haare wachsen, trug sie lang, bis sie grau wurden. Die Haarstruktur entwickelte sich uneindeutig: Nicht glatt, nicht lockig, sondern zackig, weshalb ich mich für einen leicht aufgebauschten Bob entschied.

Manchmal tauchten Bilder vor mir auf: Ich saß mit Tineline wieder im schattigen Garten auf den Spaghettistühlen. Die Zeit war nicht spurlos an uns vorbeigegangen. In meiner Fantasie sahen wir ein bisschen so aus wie unsere Mütter. Ich fühlte mich unsicher, denn Tineline verhielt sich mir gegenüber reserviert und misstrauisch. Sie hatte allen Grund, pikiert zu sein. Schließlich war sie damals von mir verlassen worden. In mir wuchs das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, wollte das alte Vertrauen zurückgewinnen. Es ließ mir keine Ruhe. Nachdem ich sie bei Facebook, Instagram und Twitter nicht gefunden hatte, gab ich „Tineline“ in die Googlemaske ein. Doch wurde die Googlesuche immer und immer wieder von der Autokorrektur in „Timeline“ umgewandelt. Als wenn sich die Zeit kein Zurück leisten könnte.

Bettina Schipping