Familienangelegenheiten

Autor: awehrmann (Seite 1 von 4)

Zum Glück ließe sich sagen

Ich schaue mir alte Bilder an. Was mir auffällt, ist nicht das Einmalige der eingefangenen Szenen, sondern die Art der Darstellungen. Wie sich in den Farb- und Lichtverläufen, der Beschaffenheit des Abzugspapiers, dem Muster der Sitzgarnituren, Tapeten und Tischdecken etwas wiederholt, das ich kenne. Staubpartikel, die im Nachmittagslicht zu „Jakobs Krönung“ tanzen. Die Einzelheiten heben sich auf und verwischen einander wie die Landschaft um ein Kettenkarussell, das Fahrt aufnimmt.
Es mag am Alter liegen. Dem der Abzüge, vor allem aber an meinem. Sich bereits an mehr zu erinnern, als man vermutlich noch erleben kann, macht, dass man Dinge anders sieht. Der nostalgische Schick einer Sepiafärbung und des Analogen weicht dem Eindruck von Vergangenem. So beginnt Geschichte, denke ich. Wenn niemand mehr da ist, der sich erinnert.

In ihrer Auseinandersetzung mit Horkheimer und Adorno schreibt die französische Philosophin Corine Pelluchon, dass das Negative der Dialektik der Aufklärung sich in dem Moment verwirkliche, wenn die Vernunft sich in der bloßen Quantifizierung von Dingen selbst erniedrige. – Jenseits dessen, freilich, hat die Vernunft wenig festzustellen. Was über den Zufall hinausreichen will, braucht Häufigkeit. Körper von Gewicht. Etwas, das sich vor dem Gegner auftürmen ließe. Erst durch ihre Exemplarität erhält die Anekdote einen Sinn. Irgendwo müssen die Widersprüche enden. Je mehr Tote, desto mehr Sinn.

Also fängt man an, sich Tiefe zu versprechen. Irgendein Familiengeheimnis, das auf diesen Bildern ausgetuschelt würde. Das Puzzlestück, das dem Ganzen eine Bedeutung, ein Schlüsselmoment, der endlich Aufschluss gäbe. Ohne dass man sagen könnte, worüber.
Dabei ist erschütternd nur die Belanglosigkeit der Vorfälle, aus denen Geschichte sich zusammensetzt. Auch die eigene. Nicht in ihren Folgen, aber doch in ihren Gründen. Deren Banalität rührt daher, dass die einzelnen Dinge meist nicht böse gemeint sind. Hannah Arendt zum Beispiel konnte Adorno nicht leiden. – Die Geschichten, die wir uns erzählen sollten, sind selten die, die wir zu hören bekommen. Und oberflächlich wie unser Wunsch nach Sepiafärbung. Obszön wie der Digitalprint einer 70er-Jahre-Tapete von Manufactum oder IKEA.

Das Dritte Reich meiner Großmutter erstreckte sich zwischen Stalingrad und Mutter-Kind-Abteil. Mutter-Kind-Abteil, weil sie, damals bereits mehr oder weniger stolze Mutter von drei Kindern, ein eigenes Abteil zugesprochen bekam, als sie mit der ganzen frontversetzten Vaterlosigkeit ihrer improvisierten Kleinfamilie und aus Gründen, die ihr nicht sehr freimütig über die Lippen kamen, die lange Fahrt von Düsseldorf nach Wien antrat. Unbehelligt.
Und unbehelligt auch, was sie wiederum gerne erzählte, wie sie sich dort durch die Straßen bewegte. Auch abends. Als Frau. Dass sich dies für viele ihrer Mitbürger damals anders verhielt – auch für Männer, auch am helllichten Tag, denn nicht alles war schließlich Nacht oder Nebel – hat sie durchaus wahrgenommen. Was aber hätte sie tun sollen? So allein als Mutter von drei Kindern? Sie hatte es schließlich auch nicht leicht.
Diese Dinge sah meine Großmutter ganz ausgewogen. Auch nach dem Krieg. Sicher ist nicht alles richtig gewesen, sagte sie, aber so einen kleinen Adolf, den würde sie sich schon manchmal noch wünschen. Auf längeren Bahnreisen zum Beispiel. Oder wenn sie nach dem Kaffeetrinken abends im Dunkeln allein nach Hause lief.

Stalingrad, weil der Mann, der der Vater ihres dritten Kindes hätte sein sollen, es aber nicht war, dort kämpfte. Und sie seit Hitlers Überfall auf Russland ganz alleine war mit den damals noch zwei Kindern. Wie gesagt, sie hatte es auch nicht leicht.
Und das ganze Reich ein Rangierbahnhof junger Männer. Dazwischen ein junger Österreicher, der soviel hermachte in seiner Uniform. Gut habe der Mann, der mein Großvater wurde, es aber nicht hätte werden dürfen, ausgesehen in seiner Montur. Schneidig. – Die Sprache wächst mit ihren Aufgaben.
Was hätte sie also tun sollen? Es war ja auch nicht sicher, dass der Mann zurückkehren würde, der mein Großvater hätte sein sollen, es aber nicht wurde. Mit Hitlers Überfall auf Russland war der Krieg verloren. Das hätten alle gewusst. Nur laut gesagt hat es keiner. An einigen ihrer Aufgaben scheitert die Sprache. So wie der, ihrem im Sommer 1943 geborenen Sohn zu sagen, wer denn nun sein Vater sei.

Weshalb nach dem Krieg meine Großmutter noch gut zwei Jahre jeden Abend mit dem nach wie vor nicht festgelegten Buben an der Hand zur Litfaßsäule am Ende ihrer alten Wohnstraße lief, an die die Kriegsheimkehrer handgeschriebene Zettel klebten, auf denen sie ihr Überleben erklärten und sich nach dem Verbleib ihrer in den Rauchruinen nicht auffindbaren Familien erkundigten.
Und während sich um sie herum Familien in die Arme fielen, während die Umstehenden weiter hoffnungsvoll ihre Hälse nach neuen Aushängen reckten, stand meine Großmutter ganz still und mit dieser Angst im Nacken da, dass ihr erster Mann am Ende doch noch zurückkehren und sie in Erklärungsnöte bringen könnte. Es gibt Aufgaben, denen will die Sprache sich gar nicht erst stellen.
Sie hatte Glück. Der Mann, der mein Großvater hätte sein sollen, es aber nicht war, kam nicht wieder. Der ist in Stalingrad geblieben, wie es heißt. So funktioniert Geschichte, denke ich. Was geschah, ist so niemals passiert.

Und ich frage mich, ob, woher und zu wem der Mann auf dem Foto, das ich ausgewählt habe, zurückgekehrt ist. Welche Angst ihm dabei im Nacken saß. Und ob er sich am Ende genauso freuen konnte wie meine Großmutter.

Ich frage mich auch, woher ich all diese Geschichten kenne. Als Kinder saßen wir, von den Erwachsenen getrennt, am Katzentisch. Heute frage ich mich, wen man da vor wem beschützen wollte.

Was man am Erwachsenentisch lernen konnte:
Dass man es auch nicht leicht hatte.
Dass man die Dinge nicht ungeschehen machen kann.
Dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt.
Dass nicht alles schlecht gewesen ist.
Und dass wir froh sein können, es so gut zu haben.

Durch die schnelle Unterwerfung ganzer Landstriche im Blitzkrieg, die Rohstoffe, derer man dadurch habhaft wurde, sowie den Einsatz der Gefangenen als Zwangsarbeiter gelang es dem Deutschen Reich bis weit in den Krieg hinein die Versorgungslage der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten. Vom Krieg war über Jahre einfach wenig zu spüren.
Wirklich schlecht, sagte meine Großmutter immer, sei es ihr erst nach dem Krieg gegangen.

Aus dieser Zeit auch die nicht zu stillende Versessenheit meiner Großmutter auf echten Bohnenkaffee, Cognac und alles, was sich mit Butter backen, braten und bestreichen ließ.
Beim Fressen wird der Nachkriegsdeutsche überindividuell bis zur Geschichtlichkeit.

Im November 1989, fast auf den Tag genau drei Wochen nach dem Mauerfall, wurde ich in eine Spezialklinik für Essstörungen eingeliefert.

Als 2004 der Kunsthistoriker und Autor Nikos Stangos starb, fand sein Partner David Plante Aufzeichnungen und Bilder in dessen Nachlass. Darunter auch eine Notiz:
Please make these fragments meaningful.
Es war nicht ersichtlich, an wen diese Bitte gerichtet war.

Inge Müller, die im April 1945 bei einem der letzten Luftangriffe der Alliierten auf Berlin unter den Trümmern ihres Elternhauses verschüttet und erst drei Tage später geborgen wurde, schrieb:

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch;
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch.

Im Mai 1945 endete der zweite Weltkrieg.
1966 hat Inge Müller sich das Leben genommen.
Ich wurde im Sommer 1990 aus der Klinik entlassen.
Meine Großmutter starb 1998 am 50. Geburtstag meiner Mutter.
The Pure Lover, David Plantes Buch über Nikos Stangos, erschien 2010.

Ich frage mich, wann das Foto, für das ich mich entschieden habe, aufgenommen wurde, und was den Menschen darauf passiert ist, das so niemals geschah.
Und wie sie wohl gestorben sind.
And who by fire, who by water […]
Who in your merry, merry month of May
Who by very slow decay. […]
Who for his greed, who for his hunger
And who shall I say is calling?

Und dass es immer zu spät sein wird. Zum Glück.

Alexander Konrad

Küche, Diele, Wald

Über dir: Balkone wie Bienenwaben. In deinem Kopf: Hochhausklischees. Menschen, die ein- und ausfliegen. Zufällige Begegnungen, strukturiertes Nebeneinander. Im Treppenhaus, an den Aufzügen, vor den Briefkästen.

Dein Zeigefinger fliegt über das Klingeltableau – auf der Suche nach seinem Nachnamen, der auch dein Nachname ist. Hundertfünfzig zur Auswahl, die vereinten Nationen. Als sei es selbstverständlich, gehst du davon aus, dass die Atlans, Richters, Begovićs, Mansours, Grunwalskis und Schneiders, die hier wohnen, Onkel Heiner nicht kennen – und wenn doch, dann gilt vermutlich: vom Sehen.

Mitte links triffst du das Ziel, klingelst. Ist ja auch egal, denkst du, Onkel Heiner sucht sowieso keinen Kontakt, Onkel Heiner lebt in seiner eigenen Welt. Also: Du glaubst zumindest, dass er keinen Kontakt sucht, denn in gewisser Weise ist dein Onkel ein Mysterium. Der Familien-Outlaw, der Einzelgänger, der Freak – inzwischen 84 Jahre alt. Oder ist er schon 85? Sicher bist du nicht. Ist ja auch nicht so, dass Onkel Heiner seinen Geburtstag jemals gefeiert hätte. Er gratuliert anderen nicht und erwartet keine Gratulationen, zumindest nicht von seinem Neffen.

Vor einigen Jahren habt ihr eine gemeinsame Tradition aus deiner Kindheit und Jugend wiederbelebt, seid jede Saison einmal auf Pilzsuche gegangen. Sofort hast du die Treffen an der Rurtalsperre vor Augen, im Nationalpark Eifel, rund 40 Autominuten vom Onkel-Heiner-Hochhaus entfernt. Dort gibt es die Pilze, die ihr vor 40 Jahren in seiner alten Heimat nie gefunden habt: Pfifferlinge. Nicht überall, man muss schon die richtigen Stellen kennen. Du konntest es nicht fassen, als Onkel Heiner dir zum ersten Mal einen moosigen Hang im Wald zeigte, wo sie zu hunderten nebeneinander wuchsen – goldgelb strahlend, fruchtig-frisch riechend, mit Aprikosennote. Die Aufseher im Nationalpark wiederum, die sich ohne Ironie als „Ranger“ bezeichnen, konnten es nicht fassen, dass dort Sommer für Sommer ein schräger alter Knacker campiert – wochenlang, in einem aus Ästen zusammenzimmerten Unterstand, mit dem Fahrrad angereist, in einer Hängematte schlafend. Autark, ausgestattet mit Camping-Kocher und Regenschutz. Einmal haben sie seinen Unterstand zerstört, sagt er. Ihm noch dazu ein Bußgeld verpasst, weil er mehr Pilze als erlaubt gesammelt hatte. Waldläufer wie Onkel Heiner, die mit der Natur in der Natur leben, sind in den Statuten des Nationalparks Eifel nicht vorgesehen.

Erstaunlich, dass du ihn noch nie in seiner Wohnung besucht hast. Okay, du musstest dich selbst einladen. Und Onkel Heiner telefonisch zu erreichen ist auch nicht ganz einfach. Du hast schon befürchtet, Onkel Heiner könnte tot in der Wohnung liegen oder zwischen den Bäumen – bis er endlich zurückrief: „Klar, Junge, komm gerne vorbei, ich bin zuhause, mein Handy mach’ ich nur selten an, weißt du doch.“

Eben hast du also deinen Wagen am Straßenrand geparkt: Neu-Liblar, 20 Kilometer vor Köln, ein ehemaliges Neubaugebiet, das zu Erftstadt gehört und etwa in der Zeit entstanden ist, als du geboren wurdest. Als du ausgestiegen bist, ist dir spontan der Film „La Haine“ in den Sinn gekommen, der Mitte der Neunziger in den Banlieues von Paris spielt und dem Problemleben dreier Jugendlicher folgt. Eigentlich passt das nicht, denn so viele Hochhäuser gibt es hier gar nicht. Nur vier oder fünf sind so hoch, dass man sie auch von weitem sieht, maximal zwanzig Stockwerke, und das Gelände unterhalb von Onkel Heiners Balkon, das „Bürgerplatz“ heißt, wirkt nicht wie ein von Hass erfüllter Brennpunkt. Keine jungen Leute auf der Straße, keine überquellenden Mülltonnen, dafür Mütter mit Kinderwagen und Senioren mir Rollator. Eine Gaststätte, ein Bäcker, ein Norma-Supermarkt, eine Apotheke, ein Kiosk mit Lotto-Annahmestelle, ein Beauty-Center, ein Sonnenstudio. Außerdem: Pizzeria La Pizzetta, Gigis Grill, Restaurant Olympia, Eiscafé Rialto. Und: einer dieser roten Zeitungsautomaten für den Kölner EXPRESS.
Schlagzeile: „Ölkrise! Schnitzel nur noch ohne Pommes“.
Ist zwar erst zwölf Uhr mittags, denkst du, aber so richtig schlimm kann das hier nicht mehr werden.

Eine Sekunde nach dem Klingeln öffnet sich die Hochhaustür. Ob Onkel Heiner im Flur gewartet hat? Natürlich hat er das, denn du bist spät dran – und er ist pünktlich wie immer. An seiner Seite führt er ein gelb lackiertes Damenfahrrad, das ungefähr so alt wie du sein dürfte. Onkel Heiner lächelt zur Begrüßung – und steigt unmittelbar ins Gespräch ein: „Die Gangschaltung war kaputt, hab’ einfach ein Teil aus einem Fahrradskelett aus- und bei mir eingebaut, aber pass auf, du kannst nur zwei Gänge benutzen.“

Onkel Heiner: Bastler, Tüftler, Reparatur-Weltmeister. Er schließt das Rad ab und nickt Richtung Tür. Sein Blick: aufgeweckt. „Wir müssen noch mein E-Bike holen, das steht oben, in der Wohnung.“
Er hat jetzt ein E-Bike? Und eine Tour geplant? Warum nicht. Den verspiegelten, frisch renovierten Aufzug muss Onkel Heiner mit seinem Schlüssel freischalten. Erst dann kann er das Stockwerk wählen.

„Und?“, beginnst du, als ihr hochfahrt. „Ist in letzter Zeit wieder mal einer aus dem Fenster gesprungen? Davon hast du doch mal erzählt …“
„Nein“, sagt er. „Für Selbstmörder ist unser Haus nicht mehr attraktiv, wer hier nicht wohnt, kommt nur schwer rein.“

Ob man erkennen kann, dass ihr verwandt seid? Jedenfalls ist dein Onkel im Vergleich zu dir ein Riese. Den Vollbart hat er immer noch, die schlohweißen, erstaunlich borstigen Haare, die unter seinem Markenzeichen – einer Kappe mit Schirm – herausragen, hat er gestutzt, der Zopf ist ab. Die Nase: immer noch groß oder gar größer geworden? Die Lippen: für sein Alter durchaus voll. An den Füßen: abgewetzte Wanderschuhe. Dazu eine Art Trainingshose, eine himmelblaue Windjacke, alles „no name“, aus dem Discounter. Du erinnerst dich: Er hatte mal einen Langarmblouson von Adidas, rot mit weißen Streifen, das sah komisch aus – Typ Hipster-Opa. Tatsächlich kann man vom Hipster-sein-wollen nicht weiter entfernt sein. Onkel Heiner hat wichtigere Dinge zu tun, als sich selbst darzustellen. Nämlich: die Welt retten. Zumindest: seine Welt retten, und als ihr auf den Balkon tretet, erfährst du, dass zu dieser Welt das Phantasialand gehört.

Du schaust auf die Fläche jenseits der Wohntürme: freistehende Ein- und Mehrfamilienhäuser, ein Schulhof, ein pyramidenförmig angelegtes „Hügelhaus“. Aus den Gärten springen hier und da blaue Trampoline ins Auge. Am Horizont erstreckt sich der Wald, und da, wo sich die Hügel erheben, da liegt Brühl und da ist das Phantasialand. Als das Gelände des Vergnügungsparks vor ein paar Jahren erweitert werden sollte, hat Onkel Heiner Widerspruch eingelegt und Dutzende Fotos der von ihm geliebten Waldstücke an die zuständigen Behörden verschickt.
„Ich weiß nicht, ob ich damit etwas bewirkt habe“, sagt er. Jedenfalls sei die Erweiterung bis heute nicht realisiert worden.

Die Wohnung: zwei Zimmer, um die 60 Quadratmeter. Spartanisch eingerichtet, penibel geordnet. Im Flur hängt vor einer Blümchentapete Onkel Heiners Schirmmützensammlung. Im Wohnzimmer: eine Farbexplosion. Die Wände sind orange gestrichen, und du meinst eine gelbe Lampe und einen grünen Schreibtisch aus der elterlichen Wohnung deiner Jugend wiederzuerkennen. Viele Möbel, die bei Onkel Heiners Verwandten ausrangiert wurden, haben hier ihre Bestimmung gefunden. Neu gekauft scheinen nur die schlichten Metallregale zu sein, die sich entlang der Wände ziehen – solche, die bei anderen eher in der Garage oder im Keller stehen. „Aus dem Baumarkt, Sonderangebot, nur acht Euro pro Stück“, erzählt Onkel Heiner, fast stolz. Dort gelagert: Werkzeug, Schrauben, Nägel, thematisch und nach Größen sortiert. Außerdem Bücher und Zeitschriften. Einige hat Onkel Heiner mit dem Cover nach vorne ausgestellt, so als wolle er sie sich in Erinnerung rufen. Da steht zum Beispiel eine Miniatur-Ausgabe von Henry David Thoureaus „Vom Spazieren“. Daneben: ein Süßwasseraquarium-Ratgeber, ein Exemplar von „Fisch & Fang – das Magazin für Angler“ sowie eine alte Ausgabe von Adornos „Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben“.

Und sonst: eine winzige Pantryküchenzeile. Daneben ein weiteres Billigregal mit Kochuntensilien. „Andere kaufen sich am liebsten Schuhe“, sagt Onkel Heiner. „Ich kauf mir am liebsten Töpfe und Pfannen.“ Er nimmt einen mittelgroßen Kochtopf zur Hand, präsentiert ihn, als handele es sich um ein Kunstwerk: „Hier, hat nur zehn Euro gekostet, von Real, Top-Verarbeitung, den hab ich noch gar nicht benutzt.“ Er deutet auf eine Kiste mit Wein. Auf den Flaschenetiketten steht: Rotwein – einfach gut. „Aus Mazedonien, nur ein Euro pro Flasche, hab mir direkt 25 gekauft, damit komme ich lange aus, trink ja nie mehr als ein Glas pro Tag.“
Schließlich betrittst du das Schlafzimmer. Dort steht kein Bett. Dafür: eine Art Schlaf-Pritsche. Auch eine Hängematte ist aufgespannt, quer durch den Raum. „Die nutze ich nur noch selten“, sagt Onkel Heiner. „Wegen der Rückenschmerzen.“

Ob selten oder nicht: Dein 84- oder 85-jähriger Onkel schläft im zehnten Stock in einer Hängematte. Küche, Diele, Wald. Du bist fasziniert: Dass man so sein kann. Lebt wie ein Jäger und Sammler. Alles nutzt, bis es „verbraucht“ ist. Sogar die Schlafanzüge des verstorbenen Vaters aufträgt. Das ist auch der Grund, warum du vor ein paar Jahren begonnen hast, über Onkel Heiner zu schreiben. Du hast dir beim Pilzsuchen dieses und jenes erzählen lassen, danach vieles ausgespart, ein bisschen übertrieben, ein bisschen dazu erfunden. Von Onkel Heiner kann man Geschichten klauen.

Trotzdem: Eigentlich weißt du gar nicht so viel über ihn. Er hatte mal einen guten Job und ein gutes Gehalt, und dann hat er gekündigt und ist nach Berlin gezogen, um den Reserveübungen der Bundeswehr zu entkommen. Danach, bis zum Tod seiner Eltern: Pendler zwischen Erftstadt und dem Münsterland. Seit er aufgehört hat zu arbeiten, sind gut vierzig Jahre vergangen. Die Wohnung hat er geerbt. Er hat noch nie Geld vom Staat genommen, lebt vom Ersparten, gibt nicht mehr als 150 Euro im Monat aus. Ein nachhaltiger Schnäppchenjäger. Noch keinen Bio-Supermarkt von innen gesehen, Stammkunde bei Aldi, Lidl und Co.

Neue Onkel-Heiner-Geschichten aufschreiben? Wäre mal wieder Zeit, du hast schon Ideen. Die Fragen dazu musst du jetzt loswerden, wer weiß, ob du später noch dazu kommst. Wenn dein Onkel einmal loslegt, ist er schwer zu stoppen, da muss man dazwischen grätschen wie ein rigoroser Talkshow-Moderator.
Du zeigst aus dem Küchenfenster, auf das Hochhaus gegenüber. „Hat da nicht die Rote Armee Fraktion diesen entführten Politiker versteckt?“
„Allerdings, 1977 war das, die Adresse ist berühmt, Zum Renngraben Nr. 8“, sagt er. „Das war aber kein Politiker, das war Hans Martin Schleyer, der Arbeitgeberpräsident, und ein Polizist aus dem Ort hatte sogar den richtigen Riecher, gab einen Hinweis auf die Wohnung im dritten Stock, aber das BKA hat ihn ignoriert.“
Irgendwo hast du gelesen, im Schleyer-Hochhaus seien in den Siebzigern mehrere Stasi-Agenten untergebracht gewesen. Zwar wohnt Onkel Heiner hier erst seit 1983, aber egal, es geht ja nicht um Fakten, sondern um gute Geschichten. In diesem Sinne: Was, wenn es da einen Stasi-RAF-Zusammenhang gäbe? Und welche Rolle könnte dabei einer wie dein Onkel gespielt haben? Du könntest ihn zum Agenten oder gar Doppelagenten machen. Nein, albern, falsche Fährte. Lieber den Geschichten-Joker ziehen, aus deiner Jackentasche. Ein unscharfes Foto – Abzug eines an den Rändern feucht angefressenen Dias, das du vor ein paar Jahren im Nachlass deiner Großeltern gefunden hast. Zu sehen ist ein Mann um die 40, mit Pilotensonnenbrille und mittellangen Haaren, das Gesicht halb im Schatten. Im Hintergrund erkennt man die Plaza Mayor der spanischen Stadt Salamanca. Klar, das ist Salamanca! Du weißt es, weil du dort mal ein Auslandssemester verbracht hast, und die Arkaden und die Terrasse des Straßencafés, die man im Hintergrund sieht – das passt eins zu eins. Die Szene wirkt, als sei sie gut 15 Jahre vor deiner Salamanca-Zeit aufgenommen worden, um 1980. Ob sie Onkel Heiner zeigt? Der Mann sieht ihm sehr ähnlich.
Du drückst ihm das Plaza-Mayor-Bild in die Hand. „Onkel Heiner, ich wusste gar nicht, dass du schon mal in Salamanca gewesen bist.“
Er hält es ins Licht. „Ach Quatsch, das bin ich doch gar nicht.“ Er schaut noch einmal hin, runzelt die Stirn. Dann gibt er dir das Foto zurück.

Fünf Minuten später radelt Ihr los, Zick und Zack. Onkel Heiner kennt diverse Schleichwege, und als ihr den Ortsrand erreicht und an einer Ampel anhalten müsst, brummt er: „Plaza del Castillo.“
Er spricht „Castillo“ korrekt aus, wie ein Spanier: Doppel-l wie „j“. Als er das Fragezeichen in deinem Gesicht sieht, legt er nach: „Pamplona.“
Und dann noch mal: „Die Aufnahme von eben – die zeigt die Plaza del Castillo in Pamplona.“
„Also bist du das doch auf dem Foto!?“
Onkel Heiner zuckt die Achseln, ein „Ist doch egal“-Lächeln auf den Lippen. „Komm, ich zeig’ dir, bis wohin letztes Jahr das Erft-Hochwasser gekommen ist.“

Die Ampel zeigt grün. Er fährt los, du hinterher. E-Bike im Turbo-Modus vs. schrottiges Damenfahrrad mit zwei Gängen. Während du erfolglos versuchst, ihn einzuholen, fragst du dich, ob das überhaupt Sinn macht: sich Onkel-Heiner-Geschichten ausdenken. Im Grunde genommen ist Onkel Heiner längst eine Romanfigur. Man muss nichts erfinden, ihn einfach erzählen lassen. Mitschneiden, aufschreiben, abmischen. Du ziehst beim Fahren dein Smartphone aus der Jacke, öffnest schon mal die Rekorder-App. Onkel Heiner ist zweihundert Meter voraus, überquert eine Brücke, erreicht die Erft. Am Fluss biegt er ab, rast auf einem Schotterweg am Ufer entlang. Gegen den Strom. Irgendwann wird er sich umschauen …

Sebastian Brück

Vogelkunde

Als mein Vater den Brief geschrieben hatte, damals, vor vielen Jahren, hatte er sich das alles mit Sicherheit ganz anders vorgestellt. Er war jung, er fuhr einen roten Karmann Ghia und er suchte eine Frau für den Beifahrersitz. Warum es dann ausgerechnet meine Mutter geworden war, ist eine gute Frage. Sie hatte die Anzeige aufgegeben. Sie hatte kein Auto. Und vielleicht war das schon das einzige Detail, das passte. Das erste Treffen fand beim Hühner Hugo statt. Sie heirateten. Ich wurde geboren. Zwei Jahre später kam mein Bruder. Mein Vater hatte den Karmann Ghia mittlerweile gegen einen himmelblauen Opel Ascona eingetauscht. Wir waren in eine Siedlung am Stadtrand gezogen, in der es außer Zigarettenautomaten für die Erwachsenen und Kaugummiautomaten für die Kinder keinerlei Infrastruktur gab. Die Siedlung grenzte an einen Truppenübungsplatz. Überall auf dem Gelände gab es Erdlöcher, in denen des nachts die Soldaten der nahen Kaserne hockten. Beim Spielen auf dem Gelände fanden wir Kinder manchmal leere Patronenhülsen. In einer mit reichlich Stacheldraht abgeschirmten Schonung stand sogar ein Panzer.

Mein Vater arbeitete bei der Bundeswehrverwaltung. Er hatte dort seine Ausbildung absolviert und ist bis zur Rente geblieben. Als Kind begleitete ich ihn manchmal ins Büro. Mehr als die Schranke am Eingang faszinierte mich nur der Locher auf dem Schreibtisch meines Vaters. Ich produzierte Konfetti, Konfetti und noch mehr Konfetti. Mein Vater telefonierte und bearbeitete Akten. Er hatte keine Schreibmaschine. Er schrieb mit der Hand. Erst viel später habe ich erfahren, dass er sich um die Besoldung von Soldaten in Auslandseinsätzen kümmerte. Mein Vater erzählte wenig von seiner Arbeit. Wenig von seinem Leben. Überhaupt wenig von sich. Nach Feierabend saß er gerne auf unserem Balkon, von dem aus man in ein angrenzendes Waldstück schauen konnte. Neben ihm auf dem Balkontisch drei Utensilien: ein Notizblock, ein Fernglas, ein Vogelbestimmungsbuch. Mit dem Feldstecher observierte mein Vater den Waldrand. Hatte er dann einen Kleiber, einen Pirol oder eine Heckenbraunelle erspäht, wurde die Beobachtung auf seinem Notizblock festgehalten. Mit Datum und Uhrzeit. Was er mit den Aufzeichnungen vorhatte, hat er uns nie verraten.

Als meine Eltern zusammenzogen, hatte mein Vater kaum Hausrat mitgebracht. Außer den Vögeln. Ein Eichelhäher, ein Wiedehopf und eine Rohrdommel. Allesamt mausetot und ausgestopft hingen sie an der Wand unserer Diele. Die Diele war ein schmaler, dämmriger Schlauch mit brauner Streublümchen-Tapete, nur spärlich beleuchtet von den selbst getöpferten Deckenlampen meiner Mutter. Wenn meine Freundinnen mich zuhause besuchten, schämte ich mich immer ein bisschen.

Zwischen meinen Eltern lief es nicht gut. Schon aus frühester Kindheit erinnere ich lautstarke Streits, die immer damit endeten, dass meine Mutter rauchend und manchmal auch weinend in der Küche stand. Vermutlich waren die Erwartungen, die beide an das Leben hatten, einfach zu unterschiedlich. Mein Vater hätte gerne ein Eigenheim erworben, um darin mit der Vorzeige-Familie zu leben, die wir nicht waren. Und meine Mutter war auf der Suche nach Selbstverwirklichung. Sie flocht Makramee-Eulen und entdeckte früh die Vollwertküche für sich. Sehr zum Leidwesen meines Vaters, der eine stille Sehnsucht nach Fleisch, Kartoffeln und Bratensoße hegte.

Die Nachbarn in unserer Siedlung hatten längst erkannt, dass wir anders waren als sie. Mein Bruder trug in seiner extremsten Phase die Haare bis zum Hintern, schwänzte die Schule und lud schon mal Obdachlose zu uns nach Hause ein, um mit ihnen zu kiffen oder spontane Bongo-Sessions abzuhalten. Seine Freunde pinkelten die Autos unserer Nachbarn an und einmal kam sogar die Polizei mit einem Durchsuchungsbescheid. Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt bereits ausgezogen. Eines Tages kam ein Anruf von der Schule. Mein Bruder sei zusammengebrochen. Drogen. Man möge ihn bitte abholen. Mein Vater verließ seinen Schreibtisch mit den Akten und dem Locher, fuhr durch die Schranke und sammelte meinen Bruder ein. Wir fuhren an den Niederrhein. Über schnurgerade Alleestraßen, an deren Rändern sich links und rechts bis zum Horizont flaches Grün erstreckte. Dort gab es eine Klinik, die neben psychisch Kranken auch Suchtkranke aufnahm. Und so standen wir irgendwann zu dritt am Empfang. „Wollen sie Ihre beiden Töchter anmelden?“ lautete die Frage an meinen Vater. Er sammelte sich einen Moment, drückte sein Kreuz durch und sagte: „Nein, meinen Sohn.“

Seit dieser Episode sind fast dreißig Jahre vergangen. Vieles hat sich verändert. Und manches hat Bestand. Mein Vater beobachtet immer noch Vögel. Er hat eine neue Frau gefunden, die besser zu ihm passt. Meine Mutter sieht er regelmäßig, alle paar Wochen, wenn sie zusammen zum Friedhof fahren.

Alexandra Wehrmann

Mlini, Kroatien

Ich bin überhaupt nur drauf gekommen, zu recherchieren, weil ich letztens einen Roman auf dem Trödel gekauft habe, der in Kroatien spielt. Einen Liebesroman. Ich fand ihn gar nicht so sonderlich gut, aber die im Buch erwähnten Ortsnamen schickten einen Adria-Wind durch meinen Körper. Als Kind verbrachte ich nämlich viele lange Sommer mit meiner Familie in Kroatien.

Der Roman spielt in Makarska. Da war ich nie, glaube ich. Aber der Name stand auf dem Flaschenetikett mit dem Himbeersirup, den wir in diesen Urlauben immer tranken. Sofort war beim Lesen der Geschmack wieder da: süß und schwer und nur zu ertragen, wenn man ihn mit viel Wasser auffüllte. Dazu aßen wir Brotfladen, gefüllt mit fünf einzelnen Ćevapčići und Senf. Die gab es an der Promenade vor einem der großen Hotels in Mlini. Genau wie die Meeresfrüchte-Salate, die wir liebten. Allerdings wohnten wir nie in einem solchen Hotel. Wir hatten immer ein Ferienhaus oder „Camere“, einzelne Zimmer in Privathäusern. Manchmal hatte man Glück und im Nebenzimmer wohnten die Kinder der Vermieter. Andrea und Madlena beispielsweise, die auf unserem Gang während unserer ersten Urlaube wohnten. Ihr komplettes Zimmer war dekoriert mit Postern von Duran Duran. Madlena war großer Fan. Ich hatte von dieser Band noch nie gehört, aber der Name klang interessant. Und diese Frisuren erst!

Die Idee, in Mlini Urlaub zu machen, stammte von Amrei, der Cousine meines Vaters. Sie war mit einem kroatischen Künstler verheiratet, dessen Elternhaus direkt nebenan lag. Wir Kinder sollten ihn „Onkel Bruno“ nennen. Onkel Bruno forderte diese Bezeichnung mit großer Vehemenz ein. Er war das, was man „larger than life“ nennt: exaltiert, laut, großzügig, eitel, schnell beleidigt, schnell wieder versöhnt. Er rieb sich gern an meinem ebenfalls ziemlich exzentrischen Vater. Oft saßen die Erwachsenen abends zusammen, tranken viel zu viel Alkohol, mein Vater provozierte, Bruno explodierte – oder umgekehrt. Wir Kinder schliefen da schon längst, aber dass es manchmal Ärger gab, spürte man auch tagsüber. Und da meine Mutter jahrelang Urlaubstagebücher führte, kann ich diese Geschichten heute noch nachlesen. Ich hatte nicht direkt Angst vor Onkel Bruno, aber großen Respekt. Seine Stimmungsschwankungen waren für mich schwer nachzuvollziehen und einzuschätzen.
Was ist eigentlich aus ihm geworden? Und aus Amrei? Ich begann zu recherchieren. Seine Wikipedia-Seite fand ich recht schnell, Amrei zu finden war schwieriger. Sie war Lehrerin und Künstlerin und einige sehr veraltete Webseiten ließen die Hoffnung zu, dass sie vielleicht noch leben könnte. Bruno war schon zehn Jahre lang tot. Dann gab es noch die Tochter der beiden. Sie war ein paar Jahre älter als ich, damals schon ein Teenager. Meine Eltern redeten mit ihr ganz anders als mit uns Kindern. Auf Augenhöhe. Und sie hörten ihr auch anders zu. Während ich damals von den Erwachsenen zum Spielen mit den anderen Kindern weggeschickt wurde, durfte sie bleiben. Weil mir ihr Name nicht mehr direkt einfiel, rief ich meinen Bruder an. Der wusste ihn sofort: Kike. Ich bewunderte die balletttanzende Kike, meine Mutter und Amrei, die ich allesamt wunderschön fand.
Ich entdeckte Kike sofort bei Instagram und scrollte mich durch ihren Account. Bilder vom glasklaren kroatischen Meer, Videos von ihr, wie sie durch die pandemisch-menschenleere Innenstadt von Dubrovnik stromert. Fotos von Madlena! Von der Madlena, bei deren Familie wir damals wohnten! Ich konnte es gar nicht fassen. Und Fotos von Amrei. Inzwischen ergraut, immer noch wunderschön und laut den zwei Jahre alten Kommentaren unter dem Foto topfit.

Kikes Account machte mich glücklich, aber auch wehmütig, und mir war erst gar nicht so richtig klar warum. Denn obwohl die Fotos natürlich fantastisch waren, gehörten unsere Kroatienurlaube nicht zu meinen liebsten. Ich konnte die Hitze nicht ertragen, war permanent schmerzhaft sonnenverbrannt und es gab absolut nichts zu tun, große Langeweile, sodass ich „Das doppelte Lottchen“ fünf Mal in einem Urlaub lesen musste. Warum also diese Wehmut? Natürlich lag es an den Menschen. An denen, die jetzt fehlten. Diese Urlaube markierten eine Zeit, in der wir noch alle eng zusammen waren. Mein Vater ist schon lange tot. Meine Mutter lebt noch, aber sie ist nicht mehr dieselbe wie früher. Ihre Demenz hat unser Rollenverhältnis umgekehrt. Mein Bruder und ich kümmern uns jetzt um sie, so wie sie sich früher um uns kümmerte. Es war also Sehnsucht nach der Kindheit, nach einer Zeit, die auch nicht sorgenfrei war. Aber vielleicht waren die Sorgen irgendwie kleiner. Rückblickend wirkte es jedenfalls so. Es war so viel passiert in der Zwischenzeit. Ich fragte mich, wie ist es Andrea, Madlena und Brunos Verwandtschaft während des Kriegs ergangen war. Schließlich machte ich Screenshots von den Instagram-Fotos und schickte sie meinem Bruder. „Guck mal, das sind Kike und Madlena! Und Amrei!“, schrieb ich ihm. „Cool!“, schrieb er zurück.

Ich werde Kike auf Instagram mal anschreiben. Ob sie sich überhaupt an uns erinnert? Es ist so unglaublich lange her alles und ich habe viele Fragen. Bei Wikipedia las ich übrigens, dass Joseph Beuys der Trauzeuge von Tante Amrei und Onkel Bruno gewesen sei. Darauf muss ich Kike auch mal ansprechen, falls sie sich meldet.

Julia Doppelfeld

Gestern, das liegt mir nicht

Er konnte die Nationalhymne und das Alphabet rülpsen, allerdings nicht komplett. Bei „Vaterland“ kam er ins Schnaufen, und bei „S“ presste er die Luft so verzweifelt in die Speiseröhre, dass er fast kotzen musste. Aber immerhin: „S“! Ich habe ihn dafür bewundert.

Stefan war mein bester Freund, wir gingen in dieselbe Klasse, und wenn wir nach der Schule zuhause angekommen waren, riefen wir einander an, um uns für den Nachmittag zu verabreden. Wir machten unsere Treffen nie in der Schule aus, nur am Telefon, was doppelt bescheuert war, denn wir trafen uns ohnehin jeden Tag und immer bei ihm.

Er lebte allein mit seiner Mutter, sie ging arbeiten, sie kochte vor, die Wohnung roch danach und vor allem Stefans Zimmer, weil er die aufgewärmten Portionen immer am Schreibtisch aß, obwohl er es nicht durfte, sondern in der Küche essen sollte. Wir hockten bei Stefan auf dem Kleiderschrank, das war unser Platz, wir stiegen über die Kommode hinauf und tranken Cola, bei Stefan war immer Cola im Kühlschrank, und er verließ unseren Aussichtsplatz nur, um die „Fragezeichen“-LP von Nena umzudrehen. Wir hörten immer diese Platte: „Heut komm’ ich, heut geh’ ich auch / Und morgen ist es dann vorbei / Vielleicht bleib’ ich auch / Gestern, das liegt mir nicht / Heut brauch’ ich Liebe, die endlos ist.“ Einmal warf Stefan einen Schaumstoff-Tennisball gegen den Tonarm, weil er zu faul war, runterzuklettern.

Stefans Mutter besaß ein VHS-Gerät, manchmal schauten wir Filme, meistens spielte Steve Martin mit, und in einem Film saß er mit einer Frau auf einem Sofa. Er fand die Frau toll, und als er aufstand, rutschte sein auf dem Schoß abgelegter Hut nicht zu Boden. Wir fragten uns, warum das so war, wie Steve Martin die Schwerkraft besiegen konnte, wir wussten es aber auch nicht so genau. Unser Lieblingsfilm war „Ein Ticket für zwei“, darin spielte Steve Martin mit John Candy, und Stefan sagte, dass John Candy der allerbeste Name überhaupt sei, Johannes Süßigkeit, super.

Wir waren zu zweit, es gab uns nicht einzeln, der eine war durch den anderen und mit dem anderen. Wir konnten werden, wer wir waren, weil wir uns sicher fühlten, und sicher fühlten wir uns wegen des anderen. Wir würden nie allein sein, dachten wir. Wobei wir genau genommen gar nichts dachten, ans Alleinsein jedenfalls nicht, denn das ist das Wunderbare an diesem Alter und zugleich das Grausame, dass man nie darüber nachdenkt. Wir wussten nicht, wie groß das alles war, es war normal für uns, so normal, dass wir es nicht zu schützen und bewahren versuchten. Wir waren gedankenlos.

Stefans Mutter bekam eine Stelle in Bremen, das sind 60 Kilometer Entfernung, wir würden uns an den Wochenenden besuchen, immer im Wechsel, freitags bis sonntags. Mit der Bahn ginge das leicht, man musste nicht mal umsteigen, unsere Eltern wollten Geld für Tickets spendieren, sie versuchten, die Freundschaft ihrer Kinder gegen die Umstände zu verteidigen. Es nützte nichts. Wir besuchten uns nicht ein einziges Mal.

Jahrelang hörte ich nichts von Stefan, und dann stand er plötzlich da, auf der großen Kirmes. Er war zu Besuch, er war mit Freunden gekommen, er trug Cowboystiefel und eine Jeansjacke, die nicht mal bis zum Gürtel reichte. Ich erkannte ihn sofort, obwohl er das Haar anders trug, es fiel nicht mehr einfach so auf die Ohren, es war vorne aufgebürstet und lag an den Seiten glänzend am Kopf. Ich freute mich und war irritiert, mir waren die Leute unangenehm, die bei ihm standen; ich war beklommen und unsicher, und mir fiel zur Begrüßung nichts anderes ein als dieser Satz: „Du hast dich aber verändert.“ Die Kirmes war nun zur Bühne geworden, die Zuschauer erwarteten eine Entgegnung, Stefan musste meine Bemerkung parieren. Er glaubte, nicht anders reagieren zu können, als mit der größtmöglichen Verletzung: „Du nicht“, sagte er. Wir sahen uns nie wieder.

Zu einem Jahrgangstreffen brachte eine frühere Klassenkameradin ein Fotoalbum mit, dieses Bild steckte darin, Stefan und ich auf der Straße, und natürlich wurde ich gefragt, wie es ihm gehe und warum er denn nicht gekommen sei. Ich erklärte, dass wir uns aus den Augen verloren hätten, ich hatte das bei verschiedenen Gelegenheiten schon oft erklärt. Ich fragte, ob ich das Foto behalten dürfe.

Natürlich habe ich darüber nachgedacht, Stefan zu googeln oder bei Instagram zu suchen. Aber was würde ich sagen sollen, 30 Jahre danach? Was könnte eine Wiederbegegnung bringen? Wem würde sie nützen? Die Möglichkeit einer weiteren Verletzung wäre größer als die Wiederaufnahme dieser Freundschaft.

Stefan und ich sind heute andere Menschen. Ich weiß, dass wir die nur werden konnten, weil wir einander hatten. Das ist ziemlich viel. Und dabei sollte man es belassen.

Philipp Holstein

Begleiterscheinungen

Ob ich denn ein Brüderchen oder Schwesterchen haben möchte, wurde ich oft von Leuten gefragt, als ich ein Kind war. Ich schüttelte stets den Kopf und betonte, dass ich lieber eine Schildkröte hätte. Dieser Wunsch wurde mir leider nie erfüllt. Zu einem Geschwisterchen kam es glücklicherweise auch nicht. Ich hätte mir niemals vorstellen können, meine Mutter mit einem anderen Kind teilen zu müssen. Wenn ich nicht an ihrem Rockzipfel hing, spielte ich mit meiner einzigen Freundin, die ich Tineline nannte. Sie hatte wie ich braune, glatte Haare und wurde von mir beneidet, da sie ihr bis zur Taille reichten. Vor allem ihr langer, die Augen verdeckender Pony hatte es mir angetan. Meine Haare wurden kurz gehalten, denn meine Mutter vertrat die Auffassung, dass mein feines Haar so kräftiger werden würde. Was zur Folge hatte, dass man mich dauernd für einen Jungen hielt – sehr zu meinem Leidwesen. Tineline und ich malten gerne. Oft saßen wir mit unseren Zeichenblöcken im Garten auf grünen Spaghettistühlen, deren wäscheleinenartige Sitzflächen unsere Oberschenkel zwickten und die Kleider einklemmten.

Irgendwann zog ich mit meinen Eltern um und verlor meine Freundin aus den Augen. In der neuen Gegend lernte ich zwei Mädchen kennen: die beiden Barbaras. Wir besuchten dieselbe Klasse und waren bald unzertrennlich. Man nannte uns die 3 Bs. Unsere freien Nachmittage – und von denen gab es viele – verbrachten wir auf den Feldern hinter den Häusern und als die Felder langsam zugebaut wurden, in den Rohbauten. Eltern haften für ihre Kinder. Ich haftete nicht mehr an meiner Mutter. Wenn wir keine Lust auf Baustelle hatten, nahmen wir uns die Riesenkiesel aus dem Steingarten der Nachbarn vor. Wir donnerten sie mit voller Wucht auf den Asphalt, bis sie zerbrachen und bewunderten dann das glitzernde Innenleben. Oder wir hopsten Gummitwist. Wenn wir ausgehüpft hatten, spielten wir Schuhgeschäft. Dafür nahmen wir die Steine aus dem Steingarten und zwirbelten sie mit dem Gummitwist-Gummiband an unseren Füßen fest und wackelten wie auf High Heels durch die Gegend. Ladys im Geiste. Unpassenderweise musste ich meine Haare immer noch kurz tragen. Rundschnitt hieß der Cut. Die kleine Barbara hatte dieselbe Frisur in blond, die große geflochtene Zöpfe. Die beiden malten leider nicht so gerne wie ich. Wenn ich Figuren zeichnete, dann automatisch mit der Frisur von Tineline.

Wir Bs wurden größer und die Haare länger. An Tineline erinnerte ich mich mittlerweile mit einem Hauch von Hochmut. Jungs spielten plötzlich eine gewisse Rolle und nachdem mich eines traurigen Tages mein langjähriger Freund verlassen hatte, ließ ich mir die Haare auf eigenen Wunsch kurz schneiden und startete eine Affäre mit dem Frisör. Ich ging oft nach Feierabend zu ihm in den einsamen Salon, war also die letzte Kundin des Tages, woraufhin es ungestört zu mehr als Haarpflege kommen konnte. Er nannte sich Dirk. Ich fragte nach seinem Nachnamen und er antwortete verschmitzt „Bach“. Nicht zuletzt die Tatsache, dass wir uns in Köln befanden, ließ mich an der Richtigkeit des Namens zweifeln. Dirk raunte mir ins Ohr, dass er am Liebsten mit mir abhauen würde. Ich wäre ohne mit der Wimper zu zucken mit ihm durchgebrannt, versäumte aber, mich zu erkundigen, warum es nie dazu kommen sollte. Vermutlich war eine Frau im Spiel. Als ich einmal auf dem Frisierstuhl saß, verabschiedete sich seine Kollegin mit den Worten: „Grüß Tineline schön von mir!“ Erschrocken dachte ich, sie würde mich meinen. Was natürlich Quatsch war, wie sich schnell herausstellte, denn dem Frisör rutschte das betörende Lächeln aus dem Gesicht. Ich ließ fortan den Salon links liegen und die Haare wachsen, trug sie lang, bis sie grau wurden. Die Haarstruktur entwickelte sich uneindeutig: Nicht glatt, nicht lockig, sondern zackig, weshalb ich mich für einen leicht aufgebauschten Bob entschied.

Manchmal tauchten Bilder vor mir auf: Ich saß mit Tineline wieder im schattigen Garten auf den Spaghettistühlen. Die Zeit war nicht spurlos an uns vorbeigegangen. In meiner Fantasie sahen wir ein bisschen so aus wie unsere Mütter. Ich fühlte mich unsicher, denn Tineline verhielt sich mir gegenüber reserviert und misstrauisch. Sie hatte allen Grund, pikiert zu sein. Schließlich war sie damals von mir verlassen worden. In mir wuchs das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, wollte das alte Vertrauen zurückgewinnen. Es ließ mir keine Ruhe. Nachdem ich sie bei Facebook, Instagram und Twitter nicht gefunden hatte, gab ich „Tineline“ in die Googlemaske ein. Doch wurde die Googlesuche immer und immer wieder von der Autokorrektur in „Timeline“ umgewandelt. Als wenn sich die Zeit kein Zurück leisten könnte.

Bettina Schipping

Langer Winter

Wer Nähe sucht, ist noch nicht verloren. Man muss nicht klein sein, um das Gelb einzufordern. Um die Gefräßigkeit des Schwarz mit Licht zu fluten. Der Flur kann eine Kobra sein. Tagsüber lässt sie sich mit einem geraden Blick fortschicken in die Ecken zu den Wollmäusen. Aber nachts? Auch Schlangen kennen die Wucht der vierten Stunde. Die Minutenpakete der Transitzeit. Sie entziehen sich einer geordneten Zustellung, explodieren, nein implodieren mit einem leisen Gelächter. Vermählt mit dem inneren Winter zausen die dunkelbunten Schatten des frühen Morgens – oder ist es doch noch Nacht? – besonders all jene, die noch wachsen müssen. Bewacht werden sie von sehr zarten Stofftieren, die sie tagsüber verstecken und abends hervorholen, weil die Decke immer zu kurz ist. Immer ist man irgendwo nackt. Ohne Schutz. Auch wenn die Sterne in winzigem Grün die Wände punktieren, willige Gesandte des Kosmos in irdischen Nuancen. Auf der Innenseite der Lider blinken sie fort, weit in den Traum hinein und verwandeln sich dort in Akkorde, die allesamt klingen wie das ausnahmsweise leise Lachen einer Stockente. Und mit dem ersten Licht tut sie so als ob sie von nichts wüsste. Wäre da nicht das noch schlafende Gesicht der Mutter, der mit den freundlichen Geistern Verbündeten, er hätte gedacht, er habe geträumt.

Der längste Winter, für dessen Schwarzweiß beide noch nach einem Begriff suchen, ist längst vorüber. An den besseren Tagen trug er wenigstens Streifen, bewegliche Geländer ohne jegliches Gewicht. Ein Wutwinter war es, ein Winter der Hilflosigkeit. Doch wie in der Natur kann auch in Menschen etwas wachsen unter der kalten Decke, die nie zu kurz ist. Den Wall aus Kristall haben sie eingerissen mit neuen, ungeahnten Kräften und die Elefantenmäntel abgelegt. Die Mäntel schweigen zu diesem Vorgehen. Sie sind geduldig und kennen ihren Tanzbereich. Falls sie nicht mehr benötigt werden, kann man sie zu Teppichen verarbeiten und mit diesen die Risse zudecken, die sich in den Dielen gebildet haben. Risse durch Worte, ausgesprochene und verschluckte, Risse durch Blicke und Gesten. Unter den Mänteln kann das Holz heilen. Narben werden bleiben und erzählen vom Leben, das stets eigene Pläne hat und anders als der Mensch auch verwirklicht. Es führt keine Listen, das Leben, und die Mutter auch nur noch, weil sie so gerne Wörter auf Papier schreibt.

Zwischen seinen Wörtern entstanden für eine kurze Zeit große Lücken. Schluchten. Da sah sie ihn wieder fallen, einen Moment lang, der sich aufblähte zu einer Dekade. Bis sie den Schalk sah in seinem Versteck hinter den Pupillen. Ein blauer Winzling, verschwistert mit dem Gelb, welches er nicht mehr hergibt, niemals, es ist eine Waffe. Eine Waffe, die niemandem weh tut, eine, die das Wort Krieg nicht kennt, in keiner Sprache. Ein Schwert für die vierte Stunde. Das er nur noch selten braucht, seit der Schlaf wieder ein Freund ist. Wie jeder gute Gefährte ist er zurückgekehrt von seiner Reise und hat Eisbonbons mitgebracht. Proviant für den Transit, dessen Ränder so unverschämt glitzern, dass man sie kaum erkennt.

Barbara Weitzel

Keine Lollys für niemand oder How to become der erfolgreichste StarSheriff in this Galaxy

An einem sonnigen Apriltag des Jahres 1961 beschloss mein Hamster zu sterben. Er stakste in die linke Ecke des Käfigs, schleppte seinen flauschigen Körper zum Wassernapf und ertränkte sich. Statt meine Tränen zu trocknen, drückte meine Mutter mir einen Dauerlutscher in die Hand und begrub Johnny in der Mülltonne. Noch heute, 127.864 Lichtjahre entfernt, sehe ich sie flattern, die rußgrauen Bettlaken auf der Leine im Hinterhof, und ich höre Martha Cerwinski aus dem Haus gegenüber rufen: „Na, Karlchen, ob dir der Osterhase wohl einen neuen Hamster bringt?“ Ich nahm einen Hammer, erschlug mein Sparschwein und kaufte mir einen Colt.

Die Eingangstüre von „Spielwaren Wacker“ lag an einer so sonnigen Ecke, dass selbst die langen Schatten der Zeche Haxenbruch sie nicht erreichen konnten. Ein Fundus des Wundersamen wand sich entlang einer steilen Wendeltreppe in die Tiefe und setzte an, das Dunkel des Erdreichs mit bunten Klötzchen zu bekämpfen. Meinem spärlichen Reichtum entsprechend hätte ich mich beim Regal hinter der Kasse umsehen müssen, dort, wo einarmige Teddybären und radlose Matchboxautos um ihr Recht kämpften, nach einer kurzen Phase des Bespieltwerdens auf dem Dachboden in selige Vergessenheit zu geraten. Stattdessen stopfte ich mein Taschengeld von drei Mark und zweiundfünfzig Pfennig tiefer in die kurze Latzhose. Bevor mir die glasigen Blicke einer Puppenfamilie, garantiert keine B-Ware, Schuldgefühle in den Rücken bohren konnten, nahm ich den Weg nach unten. Denn wenn der tote Hamster in der Mülltonne mich etwas gelehrt hatte, dann das: Das Leben war nicht fair, das Leben war endlich. Mit einer schnellen Bewegung stahl sich mein hämmerndes Herz in das Dickicht eines Kleiderständers. Es quietschte. Zwischen Gendarmerie-Uniformen im Miniformat und Kasperle-Hüten tastete ich nach den Colts in ihren scharfkantigen Plastik-Holstern. Hier im fünften Untergeschoss flossen Raum und Zeit ineinander, bis nur noch ein vages Gefühl der Nostalgie für meine Zukunft übrig blieb. Durch die Fransen einer Cowboyweste beobachtete ich, wie der Vater von Jan-Philipp Somersberg einen Computer, Modell Learn-Tec 3000, aus der Vitrine holen ließ. Jan-Philipp Somersberg war der schönste Junge der Welt. Er punktete mit braunen Locken und Sommersprossen, ich hingegen glänzte mit schlechten Noten in Sport und hinterlistigem Heuschnupfen. Vier Verkäufer:innen umschwärmten den Vater von Jan-Philipp. Während sich die Spiegelung meiner verrotzten Nase im Fuße des Drehständers verzerrte, erledigten meine Hände auf Autopilot ihren Job. Keine drei Minuten später stand ich oben an der Kasse und erlöste für zwei Mark und sechsundvierzig Pfennig einen einohrigen Plüschhasen von seinem Platz auf der Resterampe. Draußen stieg ich auf meinen Tretroller. Das linke Auge des Hasen baumelte im Takt der Schlaglöcher aus seiner Höhle. Klack, klack, klack. Ich musste pinkeln, weil sich der Spielzeug-Colt unter meinem Hemd in die Blase grub. Es war viel zu warm für einen Apriltag.

Diese Art, geschickte Besorgungen zu machen, nenne ich bis heute das Jan-Philipp-Somersberg-Prinzip. Ich scoute einen Ort, an dem ich mich unauffällig für eine unbestimmte Zeit aufhalten kann. I keep hidden in plain sight. Ich warte und warte and whilst you watch that attractive guy in the corner räume ich die Auslage des Juweliers aus. Mein Platz an der Seitenlinie sichert mir ein gutes Einkommen als StarSheriff. StarSheriffs sind Meister:innen der Interzeption und Manipulation. Wir reisen von Planet zu Planet, always on the run, eine Division in Einsamkeit, always prepared. Früher, als wir noch auf der Erde lebten, hätte man uns Archivierungsvollstreckungsbeamt:innen genannt. But we are much more punk than that.

Als mein Colt und ich zu Hause ankamen, erschien mir unser Hinterhof stickiger denn je zuvor. Es gab Graupen zum Abendessen. Ich träumte von einer Welt, in der Hamster nicht sterben mussten. Es wurde Sommer, es wurde Weihnachten. Es gab Graupen, es gab Spanisch Fricco. Mein Haar wurde länger, so lang, dass es am Hinterkopf klebte. Weihnachten war warm, der Sommer wärmer. Wir schwitzten, wenn wir abends an den Mülltonnen saßen und das Flirren der Mücken beobachteten. Jingle Bells. In der Schule hatte Jan-Philipp begonnen, sich Stifte von mir zu leihen. Am Nachmittag übte ich das Zielen mit meinem Colt, nachts träumte ich von Jan-Phillip. Das Radio in der Küche brummte rund um die Uhr, seit Grönland mit seiner Flotte die Nordwestpassage besetzt hatte. Einmal am Tag las uns Martha Cerwinski die Computernachrichten vor. Wir hatten keinen Farbbildschirm, nur ein Televox. Ich lieh Jan-Philipp meine Stifte und meine Mutter nähte dem Hasen das Auge an. Klack. Ich wurde älter und „Spielwaren Wacker“ schloss. Die Hitze stieg unerbittlich. In der Nordwestpassage tobte der Krieg und in unserer Küche mäanderte das Schweigen. Martha Cerwinski war alt, doch meine Mutter konnte jeden Tag in die Armee eingezogen werden. Am Nachmittag übte ich das Zielen mit meinem Colt und nachts träumte ich von Jan-Philipp. Der Krieg rauschte in unseren Köpfen bereits lauter als das Radio, doch meine Mutter saß immer noch in unserer Küche. Ich wurde älter und Jan-Philipp träumte von mir. Grönland forderte Unterstützung aus Deutschland an und Martha Cerwinski fuhr meine Mutter zur Airbase nach Scholven-Süd. Ich wurde älter und Jan-Philipp ging nach der sechsten Stunde mit Annabell Flözmann nach Hause. Als die Hitze am Weihnachtsabend zäh wie Rübenkraut in unsere Schlafzimmer kroch und meine Hoffnungen auf einen Brief aus Grönland unter sich begrub, heuerte ich bei StarInc an. Silvester 1964 verbrachte ich auf der dunklen Seite des Mondes. Am Nachmittag übte ich das Zielen mit meinem Colt und nachts träumte ich von Jan-Philipp.

Um als lizensierter StarSheriff ein eigenes Schiff zu unterhalten, ist es neccessary, von Zeit zu Zeit einen BigHit zu landen. Auf einen BigHit ist ein BitGeld von fünf Millionen Yen ausgesetzt. Ab und zu drehe ich ein krummes Ding on the side, einen LittleHit. StarInc weiß, dass wir den von uns erwarteten Lebensstil unmöglich mit dem mickrigen Honorar eines BigHits pro Quarter bestreiten können. Corporate ist das egal – und mir eigentlich auch. Ich mag die LittleHits; mein Schiff habe ich in einem LittleHit erbeutet. Auch ein LittleHit erfordert Finesse, obwohl er deutlich profanere Ziele verfolgt als ein BigHit. Diese Finesse ist es, die uns StarSheriffs letztendlich von den Archivierungsvollstreckungsbeamt:innen unterscheidet, I suppose. Proficiency is power.

Nach Silvester kam Weihnachten. Immer noch kein Brief aus Grönland. Die dunkle Seite des Mondes war dunkler als dunkel. Martha Cerwinski folgte dem Hamster – wenn auch nicht in die Mülltonne, so doch in ein zweites Leben. Dunkel, dunkel, dunkel. Am Nachmittag übte ich das Zielen mit meinem Colt und nachts träumte ich von Jan-Philipp. Im Sommer 1969 verlieh StarInc mir einen glitzernden Stern, ich hatte meine Ausbildung zum StarSheriff mit Auszeichnung bestanden. Exquisite Perfection of Inter-Perception and General Misguidance. Ich war bereit für die Jagd durch Zeit und Raum, bereit für die Suche nach – SLURP.

Bevor wir uns falsch verstehen: Wir jagen keine Dinge, wir jagen keine Crimes. Wir suchen in parallelen Timelines nach humanitären Ideen, um unsere Galaxie zu retten. Wir konservieren Minuten und Wissen aus der Alten Welt. Wir stehlen Zeit. Während wir unsere Victims mit einer rührseligen Story fesseln, scannen wir via Telekinevision ihre Gedanken. Und wenn wir auf lohnende Erkenntnisse treffen, saugen wir sie ab: SLURP.

Ich hatte nie einen Hamster. Ich heiße nicht Karlchen. „Spielwaren Wacker“ lag stets im Schatten, in einer der dunkelsten Straßen der Stadt. Meine Mutter hat den Krieg überlebt, Martha Cerwinski zog es nach Waikiki. Jan-Philipp Somersberg war nicht schön, und nichts von dem, was ich erzählte, ist wahr. SLURP. SLURP. SLU-

Laura Jil Beyer

Von hier an

Sie sieht schön aus. Und das weiß sie. Die Kleider und Röcke trug sie damals kurz, die Stiefel bis zum Knie. Als junges Mädchen sprach sie jemand am Strand von Rimini an, ob sie sich vorstellen könne, als Model zu arbeiten. Aus der Model-Karriere wurde dann nichts, weil sie in sämtliche Kleider nicht reinpasste. So zumindest erzählt sie uns das heute.

Sie mag Mode. Als Kinder staksten wir in ihren silber-metallic Pumps durch die Wohnung. Die trug sie zu ihrer Hochzeit. Zusammen mit einem lila Kleid mit Puffärmeln, das die Hüfte betonte, und einem ausladenden Hut. Wir liebten diese Schuhe. Ich träumte davon, endlich erwachsen zu sein und nach Lust und Laune Klacker-Schuhe tragen zu können. Noch ahnungslos, was stundenlanges Herumlaufen auf High Heels tatsächlich bedeuten kann.

Als wir älter waren und auf Partys gingen, fanden wir in ihren Schränken ihre abgelegten, selbstgenähten Kleider, Röcke und Hosen. In denen zogen wir los. Der Inhalt ihres Kleiderschranks machte uns unikat. In jeder Phase unseres heranwachsenden Daseins. Sie fand das toll. Eine Zeitlang hätte ich gerne einen Busen wie sie gehabt. Heute bin ich froh, dass es anders gekommen ist.

Sie erzählt uns davon, wie man Kinder bekommt, aber nicht, wie man keine bekommt. Sie findet, Frauen sollten eine eigene Meinung haben, selbstbewusst und stark sein. Und sich einen Versorger zum Ehemann nehmen. Wenn man sie nach den Achtundsechzigern und Woodstock fragt, sagt sie, dass sie da nicht mitgemacht habe. Das sei ihr alles zu extrem gewesen. Sie bleibt lieber im Hintergrund. Wie man im Vordergrund steht, das weiß sie auch. Aber da fühlt sie sich nicht wohl.
Sie schminkt sich beim Autofahren im Rückspiegel. Wenn sie den Wagen an der Ampel stoppt. Mit Mascara und Rouge. Der Lippenstift kommt nur bei besonderen Anlässen zum Einsatz. Wenn ein Lied im Radio läuft, das ihr gefällt, singt sie extra laut, entschieden und ohne Text mit. Sie ist einzigartig.

Beim Essen hat sie immer ein Bein über das andere geschlagen. Strümpfe trägt sie nicht. Wenn überhaupt, dann Nylon-Söckchen. Auch in Skischuhen. Sie isst gerne Eis. Meistens drei Bällchen im Hörnchen. Sie kann an keiner Eisdiele vorbeigehen.

Ihr Lachen ist ein nettes Lächeln. Sie lacht gerne. Lieber lachen als Stille ertragen. Wenn ihr etwas zu nah geht, lacht sie laut auf. Bei Abschieden weint sie.

Sie ist ausdauernd. Bücher liest sie in einem Rutsch, angefangene Dinge werden zügig fertig, Probleme gibt es nicht, nur Lösungen. Sie wollte schon immer zum Titicaca-See reisen. Da war sie dann auch. Sie hat ein großes Herz. Wenn es berührt wird.

Zum Schlafen lässt sie den Wollpullover an. Über dem Schlafanzug. Das findet sie gemütlich. Mit ihrem Haarschnitt ist sie immer unzufrieden. Sie hätte gerne Naturlocken. Früher hatte sie einmal eine Dauerwelle. Das ist heute vorbei, aber die Haarfarbe ist schon immer dieselbe. Hell blondiert. Als ihr Haarfärbemittel vor ein paar Jahren vom Markt genommen wurde, musste sie ein passendes neues finden.

Manchmal frage ich mich, ob sie gerne jemand anderes geworden wäre. Und stelle mir vor, wie sie hätte sein können. Sie selbst redet nicht darüber. Sie lächelt.

Marlin de Haan

Die Frau im Baum

Eine schwarze Feder taumelt durch die Luft und landet auf dem Kartoffelsalat. Wie gewohnt will sie aufspringen, alles wieder in Ordnung bringen. Doch niemand außer ihr bemerkt die Feder, die im sachten Luftzug zitternd auf der Mayonnaise haftet. Sie schimmert im schräg fallenden Abendlicht und die Schwärze leuchtet gülden. Alle ihre Sinne richten sich auf die Feder. In ihrer unbeugsamen Leichtigkeit, in ihrer filigranen Schönheit, in ihrer funkelnden Dunkelheit findet sie Frieden.
Pök-pök-pök.

Sie hebt den Blick und sieht eine Amsel in den Zweigen des Apfelbaumes sitzen. Das Gefieder tiefschwarz, der Schnabel leuchtendgelb. Sie möchte glauben, dass es die Amsel ist, die jeden Abend hoch oben auf dem Dachfirst singt. Ihre Blicke treffen sich, tauchen ineinander. Das dunkle Vogelauge mit hellem Lidrand in der Farbe des Schnabels. Die Amsel scheint sie fragend zu mustern. Und wer bist du?

In dem einen Moment sitzt sie noch am Tisch, im nächsten unsicher balancierend neben der Amsel auf einem Ast. Ringsum sieht sie die Häuser der Nachbarschaft und auf der Landstraße einige Autos fahren. Am Horizont ist der Bauer mit seinem Trecker auf dem Feld unterwegs und zieht eine Staubwolke hinter sich her. Sie findet Halt. Die Amsel und die Frau schauen nach unten, in den Garten. Da ist die Wiese, sind die Sträucher, die Rosenbeete, die Hochbeete mit Salaten und Kräutern, das Gewächshaus mit den Tomaten, die Apfelbäume. Da ist das Haus. Die Frau sieht Arbeit. Die Wiese muss gemäht werden, das Unkraut gejätet, dort muss gegossen, da geharkt werden, die Fenster geputzt, die –

Nein.

Rasch blickt sie zur Seite. Die Amsel richtet unverwandt ihren Blick in den Garten, nach unten, auf den Tisch. Nein?

Sieh hin.

Sie atmet ein. Aus. Sieht sich selbst. Das Haar ist geordnet. Sie trägt das Kleid, das sie im Winter genäht hat. Vorhin stellte sie fest, dass der Stoff ein wenig zu warm ist für ein Sommerkleid. Schweiß sammelte sich zwischen ihren Brüsten und unter ihren Amen, während ihre Beine allmählich auskühlten. Ihr Kopf ist leicht geneigt, ihre Ellbogen liegen auf den Armlehnen, ein entspanntes Bild, hielten ihre Hände nicht einander fest, wäre das Lächeln weniger starr. Ihre Beine sind übereinandergeschlagen und bilden eine Burg gegen die herankriechende Kälte aus der Wiese. Sie sieht sich, wie sie auf den Kartoffelsalat schaut, schweigt, ab und zu nickt sie automatisch. Um sie herum sitzen Menschen. Ihre Familie, die sie nun mit den Augen der Amsel betrachtet, kühl, mit Distanz. Sie fragt sich, wer diese Leute eigentlich sind.

Jemand lacht und es klingt nicht freundlich. Die Frau im Baum beobachtet die Lachende, die ihre mittleren Jahre schon länger hinter sich hat. Sie wirkt wuchtig und der Stuhl eine Spur zu klein für sie. Sie trägt eine gemusterte Bluse mit Rüschen und Volants. Das Gesicht ist zu grell geschminkt, das Make-up einen Ton zu dunkel und es wirft Risse dort, wo die Falten sind. Der Familienkreis ist ihre Bühne: Sie spricht und lacht zu laut, zu viel, gierig nach Aufmerksamkeit. Ihre Schwester, die Älteste, gleich sieben Jahre vor ihr geboren. Die Frau im Baum betrachtet ihre Schwester. Ihr ganzes Leben haben sie miteinander verbracht, nah und doch fern. Miteinander? Es war doch eher ein Nebeneinander. Oder ein Hintereinander? Angesehen haben sie sich nie, wenn sie darüber nachdenkt. Dafür gab es keinen Grund, denn sie kannten doch einander, oder nicht?
Im Stuhl daneben sitzt ein Mann von schmächtiger Gestalt, unscheinbar. Der Mann ihrer Schwester, ihr Schwager. Die Frau im Baum kann sich nicht erinnern, ob sie jemals ein Gespräch mit ihm geführte hat. Er segelte stets im Fahrwasser ihrer Schwester, ein Schatten in gedeckten Farben. Sie sieht ihm zu, wie er geübt an den richtigen Stellen lacht und nickt. Ihre Schwester tätschelt ihm zufrieden den Arm. Schon immer liebte sie das Gefühl von Macht über andere.

„Du hast keine Macht über mich“, flüstert die Frau im Baum. Ihre magische Formel seit Kindertagen, als sie diesen Satz ein Mädchen zu einem Koboldkönig im Film sagen hörte. Pök-pök-pök, macht die Amsel neben ihr. Ein Alarmruf.

Ein großer Mann tritt aus dem Haus in den Garten, eine Platte mit Grillfleisch in der Hand balancierend. Er trägt eine Schürze, die sie hasst. Auf die Schürze ist ein schlüpfriger Spruch gedruckt – ein Geschenk ihres Schwagers. Der Schürzenträger ist ihr Mann. Nach dem Tod ihres Vaters hat er die Rolle des grillenden Mannes übernommen. Wie in unzähligen anderen Familien kauften die Frauen vor Familienfesten alles Benötigte ein, trugen es nach Hause, machten die Salate und stellten das Grillgut bereit. Der Familientradition nach stand dann ein Mann am Grill und wurde von allen dafür gepriesen. Wie ihr Vater langweilte ihren Mann das Grillen. Das Feuer wurde zu rasch entzündet, den Kohlen zu wenig Zeit gegeben, das Fleisch kam zu früh auf den Grill und am Ende ließ das Ergebnis eher zu wünschen übrig. Auch das Tradition, die ihr vom Baum aus plötzlich lächerlich erschien. Leise lacht sie in sich hinein und beobachtet, wie sich ihr Mann am Grill aufbaut.

Ihr Mann, seit vielen Jahren. Sie konnte sich Jahreszahlen und Daten nie merken. Doch sie weiß noch, wie jung sie war, als sie sich das erste Mal begegneten. 24 war sie, er 27. Sie kamen an einer Bushaltestelle miteinander ins Gespräch, bis dahin kannten sie sich flüchtig vom Sehen, denn sie kamen aus benachbarten Kleinstädten. Kennen sie sich heute wirklich besser? Sie haben das gut gemacht, sicherlich: Den Erwartungen der Familie und Nachbarschaft entsprechend hatten sie sich verlobt, nach einer angemessenen Zeit geheiratet, ein Haus auf einem Grundstück nicht weit vom Haus ihrer Eltern gebaut, zwei Kinder bekommen – ein Mädchen, einen Jungen. Ihr Mann kümmerte sich ums Geldverdienen, sie sich um Haus, Garten, Kinder und eine erkleckliche Anzahl von Haustieren, die alle ihre letzte Ruhe im Staudenbeet fanden. Wie gewöhnlich. Aber es war ihr Leben und es war gut. Oder?

Sie schaut auf das andere Paar am Tisch. Die beiden Frauen sitzen nah beieinander, die eine kümmert sich darum, dass die andere immer etwas auf dem Teller hat, immer etwas im Glas. Sitzt du gut? Möchtest du in den Schatten? Frierst du? Die andere ist von dieser Fürsorge sichtlich berührt und zugleich überfordert. Sie ist blass und wirkt angegriffen, doch niemand spricht sie darauf an. Sie stirbt, denkt die Frau im Baum. Sie stirbt. Und auch wenn sie es schon seit einer Weile weiß, ist es in diesem Moment ein Schock. Sie stirbt wirklich. Ihre Kusine ist nur wenige Jahre älter als sie. Dass sie vor einer Weile damit herausrückte, dass der Partner, den sie lange Zeit vor ihnen verheimlicht hatte, in Wahrheit eine Frau ist, sorgte für einen mittleren Tumult im bürgerlichen Selbstverständnis der Familie. Niemand hätte sich jemals als homophob oder gar homosexuellenfeindlich erklärt, immerhin war man aufgeklärt und fortschrittlich, nicht wahr? Aber nicht in der eigenen Familie! Nun, doch. Und jetzt stirbt sie, weil eine grimmige Krankheit es so beschlossen hat.

„Die Welt ist ungerecht“, sagt sie leise zur Amsel, die nun auf sie zu blicken scheint, die Frau im Baum, die zugleich am Tisch sitzt. Würde ein naher Tod ihr Leben verändern? Was wäre, wenn sie stürbe? Wenn sie im Baum säße, ohne noch Teil der Runde am Tisch zu sein.

Da ist noch der junge Mann, beinahe noch ein Junge, der geschmeidig zu allem lächelnd bella figura macht. Ihr Sohn. Ihr Jüngster. Ihre Stirn runzelt sich, unzufrieden. Jeder am Tisch scheint für ihn ein Spiegel zu sein, in dem er sich selbst gefällt. In allen Sätzen scheint er wie ein Süchtiger nach lobenden Wörtern für sich zu haschen. Sie bemerkt, wie geschickt er vorgibt, am Tisch behilflich zu sein, ohne sich über Gebühr anstrengen zu müssen. Hier, im Baum, kann sie es sich eingestehen: Sie liebt ihren Sohn, doch den Menschen, der er ist, mag sie nicht.

Seine Aufmerksamkeit widmet er vor allem der alten Frau neben sich. Sie trägt eine geblümte Bluse und einen gelben Rock. Die Aufmerksamkeit aller am Tisch ist auf diese Frau gerichtet, die oberste Mutter, da kann die in Rüschen und Volants noch so laut reden und noch so viel lachen. Man ahnt den Wettbewerb, aber es ist keiner, bei dem irgendjemand gewinnen kann. Die Mutter, die alles schaffte, die alles erlebt hatte, die alles im Griff hatte, die jeden Schmerz kannte, sie thronte über ihnen allen.

Ihr Leben lang folgte sie den unausgesprochenen Erwartungen ihrer Mutter, ihrer Eltern. Sie spürte stets den Blick aus schmalen Augen auf sich, prüfend, abwartend und immer leicht enttäuscht. Die Eltern sollten stolz auf sie sein und sehen, dass sie es schafft. Was auch immer es war.
Die Tage folgten geregelten Abläufen, die Wochenenden, die Wochen, die Monate, die Jahre. Die Zeit floss dahin. Nein, nicht dahin, sie war randvoll gefüllt damit, mit Erinnerungen an die Zeit davor. Es waren die Erinnerungen der Mutter, an ein kleines Mädchen in Kriegsjahren, an Hunger und Leid, Erinnerungen an die in der Familie, die flüchteten, vergewaltigt wurden, Kinder verloren, ihre Arme, Beine, ihren Verstand. Es waren die nicht erzählten Erinnerungen an die in der Familie, die anderen Gewalt antaten, die vergewaltigten und stahlen, die folterten und mordeten. Sie träumte nachts davon und duckte sich tagsüber voller Schuld und Qual. Nichts fordern, nichts verlangen, schon gar nicht vom Leben. Du hast es doch gut. Du hast nie Schlimmes erlebt. Denk nur daran, wie es mir ging.

Weißt du noch, wisst ihr noch? Wie immer bei den Familientreffen werden Erinnerungen erzählt, Erinnerungen, die im gut miteinander eingeübten Ritual zur großen Familienerzählung werden: Hört, seht, so sind wir, so sind wir nicht, das sind wir, das sind wir nicht.

Sie hört. Sie sieht. Sie blickt auf diese Familie, auf ihre Familie, sie blickt auf die Amsel neben sich. Was sieht sie? Was hört sie? Wer sind wir?

Die Frau im Baum droht für einen Moment, das Gleichgewicht zu verlieren, und balanciert auf dem bedrohlich knackenden Ast. Pök-pök-pök. Die Amsel neben ihr flattert unruhig. Sie bemüht sich, still zu sitzen. Und erinnert sich an Momente der Dissonanz, in denen ihre Erinnerungen von den immer wieder in der Familie erzählten abwichen, in denen sie aufstehen und brüllen wollte, in denen sie weglaufen und stumm werden wollte. Wer ist sie?

Wer ist sie unter all den Familiengeschichten und Erinnerungen, die sie zu erdrücken scheinen? Hier, oben im Baum, nimmt sie zum ersten Mal die Verzweiflung wahr, die mit am Tisch sitzt. Die Verzweiflung im Lachen der anderen. Sie erkennt in sich die Verzweiflung, den verzweifelten Wunsch, dazuzugehören, anders zu sein und doch wie alle anderen, es allen recht zu machen, nicht aufzufallen, als etwas Besonderes zu gelten, als sie selbst erkannt zu werden, geliebt zu werden, nah zu sein, weg zu sein, keine Luft zu bekommen.

Hör hin. Die Amsel legt den Kopf schief. Sie tut es ihr gleich.
Sie sieht hin. Sie hört hin. Sie sprechen über sie, die Träumerin am Tisch, während sie lachend die Gläser heben und sich zuprosten. Die Mutter bemerkt die Amselfeder auf dem Kartoffelsalat und wirft sie mit angeekelten Lauten von sich. Pök-pök-pök. Die Amsel fliegt sich laut beschwerend davon.

Die Frau im Baum wird unversehens wieder zur Frau am Tisch. Sie blickt auf, in die Augen ihrer Familie. Sie sieht keine Freundlichkeit. Sie erkennt Unzufriedenheit. Sie erkennt Angst. Angst? Was sehen sie? Wen sehen sie? Wer ist sie?

Nein.

Sie schüttelt ihr Gefieder. Und fliegt der Amsel hinterher.

Wibke Ladwig