Über dir: Balkone wie Bienenwaben. In deinem Kopf: Hochhausklischees. Menschen, die ein- und ausfliegen. Zufällige Begegnungen, strukturiertes Nebeneinander. Im Treppenhaus, an den Aufzügen, vor den Briefkästen.
Dein Zeigefinger fliegt über das Klingeltableau – auf der Suche nach seinem Nachnamen, der auch dein Nachname ist. Hundertfünfzig zur Auswahl, die vereinten Nationen. Als sei es selbstverständlich, gehst du davon aus, dass die Atlans, Richters, Begovićs, Mansours, Grunwalskis und Schneiders, die hier wohnen, Onkel Heiner nicht kennen – und wenn doch, dann gilt vermutlich: vom Sehen.
Mitte links triffst du das Ziel, klingelst. Ist ja auch egal, denkst du, Onkel Heiner sucht sowieso keinen Kontakt, Onkel Heiner lebt in seiner eigenen Welt. Also: Du glaubst zumindest, dass er keinen Kontakt sucht, denn in gewisser Weise ist dein Onkel ein Mysterium. Der Familien-Outlaw, der Einzelgänger, der Freak – inzwischen 84 Jahre alt. Oder ist er schon 85? Sicher bist du nicht. Ist ja auch nicht so, dass Onkel Heiner seinen Geburtstag jemals gefeiert hätte. Er gratuliert anderen nicht und erwartet keine Gratulationen, zumindest nicht von seinem Neffen.
Vor einigen Jahren habt ihr eine gemeinsame Tradition aus deiner Kindheit und Jugend wiederbelebt, seid jede Saison einmal auf Pilzsuche gegangen. Sofort hast du die Treffen an der Rurtalsperre vor Augen, im Nationalpark Eifel, rund 40 Autominuten vom Onkel-Heiner-Hochhaus entfernt. Dort gibt es die Pilze, die ihr vor 40 Jahren in seiner alten Heimat nie gefunden habt: Pfifferlinge. Nicht überall, man muss schon die richtigen Stellen kennen. Du konntest es nicht fassen, als Onkel Heiner dir zum ersten Mal einen moosigen Hang im Wald zeigte, wo sie zu hunderten nebeneinander wuchsen – goldgelb strahlend, fruchtig-frisch riechend, mit Aprikosennote. Die Aufseher im Nationalpark wiederum, die sich ohne Ironie als „Ranger“ bezeichnen, konnten es nicht fassen, dass dort Sommer für Sommer ein schräger alter Knacker campiert – wochenlang, in einem aus Ästen zusammenzimmerten Unterstand, mit dem Fahrrad angereist, in einer Hängematte schlafend. Autark, ausgestattet mit Camping-Kocher und Regenschutz. Einmal haben sie seinen Unterstand zerstört, sagt er. Ihm noch dazu ein Bußgeld verpasst, weil er mehr Pilze als erlaubt gesammelt hatte. Waldläufer wie Onkel Heiner, die mit der Natur in der Natur leben, sind in den Statuten des Nationalparks Eifel nicht vorgesehen.
Erstaunlich, dass du ihn noch nie in seiner Wohnung besucht hast. Okay, du musstest dich selbst einladen. Und Onkel Heiner telefonisch zu erreichen ist auch nicht ganz einfach. Du hast schon befürchtet, Onkel Heiner könnte tot in der Wohnung liegen oder zwischen den Bäumen – bis er endlich zurückrief: „Klar, Junge, komm gerne vorbei, ich bin zuhause, mein Handy mach’ ich nur selten an, weißt du doch.“
Eben hast du also deinen Wagen am Straßenrand geparkt: Neu-Liblar, 20 Kilometer vor Köln, ein ehemaliges Neubaugebiet, das zu Erftstadt gehört und etwa in der Zeit entstanden ist, als du geboren wurdest. Als du ausgestiegen bist, ist dir spontan der Film „La Haine“ in den Sinn gekommen, der Mitte der Neunziger in den Banlieues von Paris spielt und dem Problemleben dreier Jugendlicher folgt. Eigentlich passt das nicht, denn so viele Hochhäuser gibt es hier gar nicht. Nur vier oder fünf sind so hoch, dass man sie auch von weitem sieht, maximal zwanzig Stockwerke, und das Gelände unterhalb von Onkel Heiners Balkon, das „Bürgerplatz“ heißt, wirkt nicht wie ein von Hass erfüllter Brennpunkt. Keine jungen Leute auf der Straße, keine überquellenden Mülltonnen, dafür Mütter mit Kinderwagen und Senioren mir Rollator. Eine Gaststätte, ein Bäcker, ein Norma-Supermarkt, eine Apotheke, ein Kiosk mit Lotto-Annahmestelle, ein Beauty-Center, ein Sonnenstudio. Außerdem: Pizzeria La Pizzetta, Gigis Grill, Restaurant Olympia, Eiscafé Rialto. Und: einer dieser roten Zeitungsautomaten für den Kölner EXPRESS.
Schlagzeile: „Ölkrise! Schnitzel nur noch ohne Pommes“.
Ist zwar erst zwölf Uhr mittags, denkst du, aber so richtig schlimm kann das hier nicht mehr werden.
Eine Sekunde nach dem Klingeln öffnet sich die Hochhaustür. Ob Onkel Heiner im Flur gewartet hat? Natürlich hat er das, denn du bist spät dran – und er ist pünktlich wie immer. An seiner Seite führt er ein gelb lackiertes Damenfahrrad, das ungefähr so alt wie du sein dürfte. Onkel Heiner lächelt zur Begrüßung – und steigt unmittelbar ins Gespräch ein: „Die Gangschaltung war kaputt, hab’ einfach ein Teil aus einem Fahrradskelett aus- und bei mir eingebaut, aber pass auf, du kannst nur zwei Gänge benutzen.“
Onkel Heiner: Bastler, Tüftler, Reparatur-Weltmeister. Er schließt das Rad ab und nickt Richtung Tür. Sein Blick: aufgeweckt. „Wir müssen noch mein E-Bike holen, das steht oben, in der Wohnung.“
Er hat jetzt ein E-Bike? Und eine Tour geplant? Warum nicht. Den verspiegelten, frisch renovierten Aufzug muss Onkel Heiner mit seinem Schlüssel freischalten. Erst dann kann er das Stockwerk wählen.
„Und?“, beginnst du, als ihr hochfahrt. „Ist in letzter Zeit wieder mal einer aus dem Fenster gesprungen? Davon hast du doch mal erzählt …“
„Nein“, sagt er. „Für Selbstmörder ist unser Haus nicht mehr attraktiv, wer hier nicht wohnt, kommt nur schwer rein.“
Ob man erkennen kann, dass ihr verwandt seid? Jedenfalls ist dein Onkel im Vergleich zu dir ein Riese. Den Vollbart hat er immer noch, die schlohweißen, erstaunlich borstigen Haare, die unter seinem Markenzeichen – einer Kappe mit Schirm – herausragen, hat er gestutzt, der Zopf ist ab. Die Nase: immer noch groß oder gar größer geworden? Die Lippen: für sein Alter durchaus voll. An den Füßen: abgewetzte Wanderschuhe. Dazu eine Art Trainingshose, eine himmelblaue Windjacke, alles „no name“, aus dem Discounter. Du erinnerst dich: Er hatte mal einen Langarmblouson von Adidas, rot mit weißen Streifen, das sah komisch aus – Typ Hipster-Opa. Tatsächlich kann man vom Hipster-sein-wollen nicht weiter entfernt sein. Onkel Heiner hat wichtigere Dinge zu tun, als sich selbst darzustellen. Nämlich: die Welt retten. Zumindest: seine Welt retten, und als ihr auf den Balkon tretet, erfährst du, dass zu dieser Welt das Phantasialand gehört.
Du schaust auf die Fläche jenseits der Wohntürme: freistehende Ein- und Mehrfamilienhäuser, ein Schulhof, ein pyramidenförmig angelegtes „Hügelhaus“. Aus den Gärten springen hier und da blaue Trampoline ins Auge. Am Horizont erstreckt sich der Wald, und da, wo sich die Hügel erheben, da liegt Brühl und da ist das Phantasialand. Als das Gelände des Vergnügungsparks vor ein paar Jahren erweitert werden sollte, hat Onkel Heiner Widerspruch eingelegt und Dutzende Fotos der von ihm geliebten Waldstücke an die zuständigen Behörden verschickt.
„Ich weiß nicht, ob ich damit etwas bewirkt habe“, sagt er. Jedenfalls sei die Erweiterung bis heute nicht realisiert worden.
Die Wohnung: zwei Zimmer, um die 60 Quadratmeter. Spartanisch eingerichtet, penibel geordnet. Im Flur hängt vor einer Blümchentapete Onkel Heiners Schirmmützensammlung. Im Wohnzimmer: eine Farbexplosion. Die Wände sind orange gestrichen, und du meinst eine gelbe Lampe und einen grünen Schreibtisch aus der elterlichen Wohnung deiner Jugend wiederzuerkennen. Viele Möbel, die bei Onkel Heiners Verwandten ausrangiert wurden, haben hier ihre Bestimmung gefunden. Neu gekauft scheinen nur die schlichten Metallregale zu sein, die sich entlang der Wände ziehen – solche, die bei anderen eher in der Garage oder im Keller stehen. „Aus dem Baumarkt, Sonderangebot, nur acht Euro pro Stück“, erzählt Onkel Heiner, fast stolz. Dort gelagert: Werkzeug, Schrauben, Nägel, thematisch und nach Größen sortiert. Außerdem Bücher und Zeitschriften. Einige hat Onkel Heiner mit dem Cover nach vorne ausgestellt, so als wolle er sie sich in Erinnerung rufen. Da steht zum Beispiel eine Miniatur-Ausgabe von Henry David Thoureaus „Vom Spazieren“. Daneben: ein Süßwasseraquarium-Ratgeber, ein Exemplar von „Fisch & Fang – das Magazin für Angler“ sowie eine alte Ausgabe von Adornos „Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben“.
Und sonst: eine winzige Pantryküchenzeile. Daneben ein weiteres Billigregal mit Kochuntensilien. „Andere kaufen sich am liebsten Schuhe“, sagt Onkel Heiner. „Ich kauf mir am liebsten Töpfe und Pfannen.“ Er nimmt einen mittelgroßen Kochtopf zur Hand, präsentiert ihn, als handele es sich um ein Kunstwerk: „Hier, hat nur zehn Euro gekostet, von Real, Top-Verarbeitung, den hab ich noch gar nicht benutzt.“ Er deutet auf eine Kiste mit Wein. Auf den Flaschenetiketten steht: Rotwein – einfach gut. „Aus Mazedonien, nur ein Euro pro Flasche, hab mir direkt 25 gekauft, damit komme ich lange aus, trink ja nie mehr als ein Glas pro Tag.“
Schließlich betrittst du das Schlafzimmer. Dort steht kein Bett. Dafür: eine Art Schlaf-Pritsche. Auch eine Hängematte ist aufgespannt, quer durch den Raum. „Die nutze ich nur noch selten“, sagt Onkel Heiner. „Wegen der Rückenschmerzen.“
Ob selten oder nicht: Dein 84- oder 85-jähriger Onkel schläft im zehnten Stock in einer Hängematte. Küche, Diele, Wald. Du bist fasziniert: Dass man so sein kann. Lebt wie ein Jäger und Sammler. Alles nutzt, bis es „verbraucht“ ist. Sogar die Schlafanzüge des verstorbenen Vaters aufträgt. Das ist auch der Grund, warum du vor ein paar Jahren begonnen hast, über Onkel Heiner zu schreiben. Du hast dir beim Pilzsuchen dieses und jenes erzählen lassen, danach vieles ausgespart, ein bisschen übertrieben, ein bisschen dazu erfunden. Von Onkel Heiner kann man Geschichten klauen.
Trotzdem: Eigentlich weißt du gar nicht so viel über ihn. Er hatte mal einen guten Job und ein gutes Gehalt, und dann hat er gekündigt und ist nach Berlin gezogen, um den Reserveübungen der Bundeswehr zu entkommen. Danach, bis zum Tod seiner Eltern: Pendler zwischen Erftstadt und dem Münsterland. Seit er aufgehört hat zu arbeiten, sind gut vierzig Jahre vergangen. Die Wohnung hat er geerbt. Er hat noch nie Geld vom Staat genommen, lebt vom Ersparten, gibt nicht mehr als 150 Euro im Monat aus. Ein nachhaltiger Schnäppchenjäger. Noch keinen Bio-Supermarkt von innen gesehen, Stammkunde bei Aldi, Lidl und Co.
Neue Onkel-Heiner-Geschichten aufschreiben? Wäre mal wieder Zeit, du hast schon Ideen. Die Fragen dazu musst du jetzt loswerden, wer weiß, ob du später noch dazu kommst. Wenn dein Onkel einmal loslegt, ist er schwer zu stoppen, da muss man dazwischen grätschen wie ein rigoroser Talkshow-Moderator.
Du zeigst aus dem Küchenfenster, auf das Hochhaus gegenüber. „Hat da nicht die Rote Armee Fraktion diesen entführten Politiker versteckt?“
„Allerdings, 1977 war das, die Adresse ist berühmt, Zum Renngraben Nr. 8“, sagt er. „Das war aber kein Politiker, das war Hans Martin Schleyer, der Arbeitgeberpräsident, und ein Polizist aus dem Ort hatte sogar den richtigen Riecher, gab einen Hinweis auf die Wohnung im dritten Stock, aber das BKA hat ihn ignoriert.“
Irgendwo hast du gelesen, im Schleyer-Hochhaus seien in den Siebzigern mehrere Stasi-Agenten untergebracht gewesen. Zwar wohnt Onkel Heiner hier erst seit 1983, aber egal, es geht ja nicht um Fakten, sondern um gute Geschichten. In diesem Sinne: Was, wenn es da einen Stasi-RAF-Zusammenhang gäbe? Und welche Rolle könnte dabei einer wie dein Onkel gespielt haben? Du könntest ihn zum Agenten oder gar Doppelagenten machen. Nein, albern, falsche Fährte. Lieber den Geschichten-Joker ziehen, aus deiner Jackentasche. Ein unscharfes Foto – Abzug eines an den Rändern feucht angefressenen Dias, das du vor ein paar Jahren im Nachlass deiner Großeltern gefunden hast. Zu sehen ist ein Mann um die 40, mit Pilotensonnenbrille und mittellangen Haaren, das Gesicht halb im Schatten. Im Hintergrund erkennt man die Plaza Mayor der spanischen Stadt Salamanca. Klar, das ist Salamanca! Du weißt es, weil du dort mal ein Auslandssemester verbracht hast, und die Arkaden und die Terrasse des Straßencafés, die man im Hintergrund sieht – das passt eins zu eins. Die Szene wirkt, als sei sie gut 15 Jahre vor deiner Salamanca-Zeit aufgenommen worden, um 1980. Ob sie Onkel Heiner zeigt? Der Mann sieht ihm sehr ähnlich.
Du drückst ihm das Plaza-Mayor-Bild in die Hand. „Onkel Heiner, ich wusste gar nicht, dass du schon mal in Salamanca gewesen bist.“
Er hält es ins Licht. „Ach Quatsch, das bin ich doch gar nicht.“ Er schaut noch einmal hin, runzelt die Stirn. Dann gibt er dir das Foto zurück.
Fünf Minuten später radelt Ihr los, Zick und Zack. Onkel Heiner kennt diverse Schleichwege, und als ihr den Ortsrand erreicht und an einer Ampel anhalten müsst, brummt er: „Plaza del Castillo.“
Er spricht „Castillo“ korrekt aus, wie ein Spanier: Doppel-l wie „j“. Als er das Fragezeichen in deinem Gesicht sieht, legt er nach: „Pamplona.“
Und dann noch mal: „Die Aufnahme von eben – die zeigt die Plaza del Castillo in Pamplona.“
„Also bist du das doch auf dem Foto!?“
Onkel Heiner zuckt die Achseln, ein „Ist doch egal“-Lächeln auf den Lippen. „Komm, ich zeig’ dir, bis wohin letztes Jahr das Erft-Hochwasser gekommen ist.“
Die Ampel zeigt grün. Er fährt los, du hinterher. E-Bike im Turbo-Modus vs. schrottiges Damenfahrrad mit zwei Gängen. Während du erfolglos versuchst, ihn einzuholen, fragst du dich, ob das überhaupt Sinn macht: sich Onkel-Heiner-Geschichten ausdenken. Im Grunde genommen ist Onkel Heiner längst eine Romanfigur. Man muss nichts erfinden, ihn einfach erzählen lassen. Mitschneiden, aufschreiben, abmischen. Du ziehst beim Fahren dein Smartphone aus der Jacke, öffnest schon mal die Rekorder-App. Onkel Heiner ist zweihundert Meter voraus, überquert eine Brücke, erreicht die Erft. Am Fluss biegt er ab, rast auf einem Schotterweg am Ufer entlang. Gegen den Strom. Irgendwann wird er sich umschauen …
Sebastian Brück