Eine schwarze Feder taumelt durch die Luft und landet auf dem Kartoffelsalat. Wie gewohnt will sie aufspringen, alles wieder in Ordnung bringen. Doch niemand außer ihr bemerkt die Feder, die im sachten Luftzug zitternd auf der Mayonnaise haftet. Sie schimmert im schräg fallenden Abendlicht und die Schwärze leuchtet gülden. Alle ihre Sinne richten sich auf die Feder. In ihrer unbeugsamen Leichtigkeit, in ihrer filigranen Schönheit, in ihrer funkelnden Dunkelheit findet sie Frieden.
Pök-pök-pök.

Sie hebt den Blick und sieht eine Amsel in den Zweigen des Apfelbaumes sitzen. Das Gefieder tiefschwarz, der Schnabel leuchtendgelb. Sie möchte glauben, dass es die Amsel ist, die jeden Abend hoch oben auf dem Dachfirst singt. Ihre Blicke treffen sich, tauchen ineinander. Das dunkle Vogelauge mit hellem Lidrand in der Farbe des Schnabels. Die Amsel scheint sie fragend zu mustern. Und wer bist du?

In dem einen Moment sitzt sie noch am Tisch, im nächsten unsicher balancierend neben der Amsel auf einem Ast. Ringsum sieht sie die Häuser der Nachbarschaft und auf der Landstraße einige Autos fahren. Am Horizont ist der Bauer mit seinem Trecker auf dem Feld unterwegs und zieht eine Staubwolke hinter sich her. Sie findet Halt. Die Amsel und die Frau schauen nach unten, in den Garten. Da ist die Wiese, sind die Sträucher, die Rosenbeete, die Hochbeete mit Salaten und Kräutern, das Gewächshaus mit den Tomaten, die Apfelbäume. Da ist das Haus. Die Frau sieht Arbeit. Die Wiese muss gemäht werden, das Unkraut gejätet, dort muss gegossen, da geharkt werden, die Fenster geputzt, die –

Nein.

Rasch blickt sie zur Seite. Die Amsel richtet unverwandt ihren Blick in den Garten, nach unten, auf den Tisch. Nein?

Sieh hin.

Sie atmet ein. Aus. Sieht sich selbst. Das Haar ist geordnet. Sie trägt das Kleid, das sie im Winter genäht hat. Vorhin stellte sie fest, dass der Stoff ein wenig zu warm ist für ein Sommerkleid. Schweiß sammelte sich zwischen ihren Brüsten und unter ihren Amen, während ihre Beine allmählich auskühlten. Ihr Kopf ist leicht geneigt, ihre Ellbogen liegen auf den Armlehnen, ein entspanntes Bild, hielten ihre Hände nicht einander fest, wäre das Lächeln weniger starr. Ihre Beine sind übereinandergeschlagen und bilden eine Burg gegen die herankriechende Kälte aus der Wiese. Sie sieht sich, wie sie auf den Kartoffelsalat schaut, schweigt, ab und zu nickt sie automatisch. Um sie herum sitzen Menschen. Ihre Familie, die sie nun mit den Augen der Amsel betrachtet, kühl, mit Distanz. Sie fragt sich, wer diese Leute eigentlich sind.

Jemand lacht und es klingt nicht freundlich. Die Frau im Baum beobachtet die Lachende, die ihre mittleren Jahre schon länger hinter sich hat. Sie wirkt wuchtig und der Stuhl eine Spur zu klein für sie. Sie trägt eine gemusterte Bluse mit Rüschen und Volants. Das Gesicht ist zu grell geschminkt, das Make-up einen Ton zu dunkel und es wirft Risse dort, wo die Falten sind. Der Familienkreis ist ihre Bühne: Sie spricht und lacht zu laut, zu viel, gierig nach Aufmerksamkeit. Ihre Schwester, die Älteste, gleich sieben Jahre vor ihr geboren. Die Frau im Baum betrachtet ihre Schwester. Ihr ganzes Leben haben sie miteinander verbracht, nah und doch fern. Miteinander? Es war doch eher ein Nebeneinander. Oder ein Hintereinander? Angesehen haben sie sich nie, wenn sie darüber nachdenkt. Dafür gab es keinen Grund, denn sie kannten doch einander, oder nicht?
Im Stuhl daneben sitzt ein Mann von schmächtiger Gestalt, unscheinbar. Der Mann ihrer Schwester, ihr Schwager. Die Frau im Baum kann sich nicht erinnern, ob sie jemals ein Gespräch mit ihm geführte hat. Er segelte stets im Fahrwasser ihrer Schwester, ein Schatten in gedeckten Farben. Sie sieht ihm zu, wie er geübt an den richtigen Stellen lacht und nickt. Ihre Schwester tätschelt ihm zufrieden den Arm. Schon immer liebte sie das Gefühl von Macht über andere.

„Du hast keine Macht über mich“, flüstert die Frau im Baum. Ihre magische Formel seit Kindertagen, als sie diesen Satz ein Mädchen zu einem Koboldkönig im Film sagen hörte. Pök-pök-pök, macht die Amsel neben ihr. Ein Alarmruf.

Ein großer Mann tritt aus dem Haus in den Garten, eine Platte mit Grillfleisch in der Hand balancierend. Er trägt eine Schürze, die sie hasst. Auf die Schürze ist ein schlüpfriger Spruch gedruckt – ein Geschenk ihres Schwagers. Der Schürzenträger ist ihr Mann. Nach dem Tod ihres Vaters hat er die Rolle des grillenden Mannes übernommen. Wie in unzähligen anderen Familien kauften die Frauen vor Familienfesten alles Benötigte ein, trugen es nach Hause, machten die Salate und stellten das Grillgut bereit. Der Familientradition nach stand dann ein Mann am Grill und wurde von allen dafür gepriesen. Wie ihr Vater langweilte ihren Mann das Grillen. Das Feuer wurde zu rasch entzündet, den Kohlen zu wenig Zeit gegeben, das Fleisch kam zu früh auf den Grill und am Ende ließ das Ergebnis eher zu wünschen übrig. Auch das Tradition, die ihr vom Baum aus plötzlich lächerlich erschien. Leise lacht sie in sich hinein und beobachtet, wie sich ihr Mann am Grill aufbaut.

Ihr Mann, seit vielen Jahren. Sie konnte sich Jahreszahlen und Daten nie merken. Doch sie weiß noch, wie jung sie war, als sie sich das erste Mal begegneten. 24 war sie, er 27. Sie kamen an einer Bushaltestelle miteinander ins Gespräch, bis dahin kannten sie sich flüchtig vom Sehen, denn sie kamen aus benachbarten Kleinstädten. Kennen sie sich heute wirklich besser? Sie haben das gut gemacht, sicherlich: Den Erwartungen der Familie und Nachbarschaft entsprechend hatten sie sich verlobt, nach einer angemessenen Zeit geheiratet, ein Haus auf einem Grundstück nicht weit vom Haus ihrer Eltern gebaut, zwei Kinder bekommen – ein Mädchen, einen Jungen. Ihr Mann kümmerte sich ums Geldverdienen, sie sich um Haus, Garten, Kinder und eine erkleckliche Anzahl von Haustieren, die alle ihre letzte Ruhe im Staudenbeet fanden. Wie gewöhnlich. Aber es war ihr Leben und es war gut. Oder?

Sie schaut auf das andere Paar am Tisch. Die beiden Frauen sitzen nah beieinander, die eine kümmert sich darum, dass die andere immer etwas auf dem Teller hat, immer etwas im Glas. Sitzt du gut? Möchtest du in den Schatten? Frierst du? Die andere ist von dieser Fürsorge sichtlich berührt und zugleich überfordert. Sie ist blass und wirkt angegriffen, doch niemand spricht sie darauf an. Sie stirbt, denkt die Frau im Baum. Sie stirbt. Und auch wenn sie es schon seit einer Weile weiß, ist es in diesem Moment ein Schock. Sie stirbt wirklich. Ihre Kusine ist nur wenige Jahre älter als sie. Dass sie vor einer Weile damit herausrückte, dass der Partner, den sie lange Zeit vor ihnen verheimlicht hatte, in Wahrheit eine Frau ist, sorgte für einen mittleren Tumult im bürgerlichen Selbstverständnis der Familie. Niemand hätte sich jemals als homophob oder gar homosexuellenfeindlich erklärt, immerhin war man aufgeklärt und fortschrittlich, nicht wahr? Aber nicht in der eigenen Familie! Nun, doch. Und jetzt stirbt sie, weil eine grimmige Krankheit es so beschlossen hat.

„Die Welt ist ungerecht“, sagt sie leise zur Amsel, die nun auf sie zu blicken scheint, die Frau im Baum, die zugleich am Tisch sitzt. Würde ein naher Tod ihr Leben verändern? Was wäre, wenn sie stürbe? Wenn sie im Baum säße, ohne noch Teil der Runde am Tisch zu sein.

Da ist noch der junge Mann, beinahe noch ein Junge, der geschmeidig zu allem lächelnd bella figura macht. Ihr Sohn. Ihr Jüngster. Ihre Stirn runzelt sich, unzufrieden. Jeder am Tisch scheint für ihn ein Spiegel zu sein, in dem er sich selbst gefällt. In allen Sätzen scheint er wie ein Süchtiger nach lobenden Wörtern für sich zu haschen. Sie bemerkt, wie geschickt er vorgibt, am Tisch behilflich zu sein, ohne sich über Gebühr anstrengen zu müssen. Hier, im Baum, kann sie es sich eingestehen: Sie liebt ihren Sohn, doch den Menschen, der er ist, mag sie nicht.

Seine Aufmerksamkeit widmet er vor allem der alten Frau neben sich. Sie trägt eine geblümte Bluse und einen gelben Rock. Die Aufmerksamkeit aller am Tisch ist auf diese Frau gerichtet, die oberste Mutter, da kann die in Rüschen und Volants noch so laut reden und noch so viel lachen. Man ahnt den Wettbewerb, aber es ist keiner, bei dem irgendjemand gewinnen kann. Die Mutter, die alles schaffte, die alles erlebt hatte, die alles im Griff hatte, die jeden Schmerz kannte, sie thronte über ihnen allen.

Ihr Leben lang folgte sie den unausgesprochenen Erwartungen ihrer Mutter, ihrer Eltern. Sie spürte stets den Blick aus schmalen Augen auf sich, prüfend, abwartend und immer leicht enttäuscht. Die Eltern sollten stolz auf sie sein und sehen, dass sie es schafft. Was auch immer es war.
Die Tage folgten geregelten Abläufen, die Wochenenden, die Wochen, die Monate, die Jahre. Die Zeit floss dahin. Nein, nicht dahin, sie war randvoll gefüllt damit, mit Erinnerungen an die Zeit davor. Es waren die Erinnerungen der Mutter, an ein kleines Mädchen in Kriegsjahren, an Hunger und Leid, Erinnerungen an die in der Familie, die flüchteten, vergewaltigt wurden, Kinder verloren, ihre Arme, Beine, ihren Verstand. Es waren die nicht erzählten Erinnerungen an die in der Familie, die anderen Gewalt antaten, die vergewaltigten und stahlen, die folterten und mordeten. Sie träumte nachts davon und duckte sich tagsüber voller Schuld und Qual. Nichts fordern, nichts verlangen, schon gar nicht vom Leben. Du hast es doch gut. Du hast nie Schlimmes erlebt. Denk nur daran, wie es mir ging.

Weißt du noch, wisst ihr noch? Wie immer bei den Familientreffen werden Erinnerungen erzählt, Erinnerungen, die im gut miteinander eingeübten Ritual zur großen Familienerzählung werden: Hört, seht, so sind wir, so sind wir nicht, das sind wir, das sind wir nicht.

Sie hört. Sie sieht. Sie blickt auf diese Familie, auf ihre Familie, sie blickt auf die Amsel neben sich. Was sieht sie? Was hört sie? Wer sind wir?

Die Frau im Baum droht für einen Moment, das Gleichgewicht zu verlieren, und balanciert auf dem bedrohlich knackenden Ast. Pök-pök-pök. Die Amsel neben ihr flattert unruhig. Sie bemüht sich, still zu sitzen. Und erinnert sich an Momente der Dissonanz, in denen ihre Erinnerungen von den immer wieder in der Familie erzählten abwichen, in denen sie aufstehen und brüllen wollte, in denen sie weglaufen und stumm werden wollte. Wer ist sie?

Wer ist sie unter all den Familiengeschichten und Erinnerungen, die sie zu erdrücken scheinen? Hier, oben im Baum, nimmt sie zum ersten Mal die Verzweiflung wahr, die mit am Tisch sitzt. Die Verzweiflung im Lachen der anderen. Sie erkennt in sich die Verzweiflung, den verzweifelten Wunsch, dazuzugehören, anders zu sein und doch wie alle anderen, es allen recht zu machen, nicht aufzufallen, als etwas Besonderes zu gelten, als sie selbst erkannt zu werden, geliebt zu werden, nah zu sein, weg zu sein, keine Luft zu bekommen.

Hör hin. Die Amsel legt den Kopf schief. Sie tut es ihr gleich.
Sie sieht hin. Sie hört hin. Sie sprechen über sie, die Träumerin am Tisch, während sie lachend die Gläser heben und sich zuprosten. Die Mutter bemerkt die Amselfeder auf dem Kartoffelsalat und wirft sie mit angeekelten Lauten von sich. Pök-pök-pök. Die Amsel fliegt sich laut beschwerend davon.

Die Frau im Baum wird unversehens wieder zur Frau am Tisch. Sie blickt auf, in die Augen ihrer Familie. Sie sieht keine Freundlichkeit. Sie erkennt Unzufriedenheit. Sie erkennt Angst. Angst? Was sehen sie? Wen sehen sie? Wer ist sie?

Nein.

Sie schüttelt ihr Gefieder. Und fliegt der Amsel hinterher.

Wibke Ladwig