Jens will den Wohnwagen verkaufen. Ohne Carport werden die Roststellen tiefer, sagt er. Man muss trocken und gut gelüftet parken, sagt er. Sonst: „Dauerärgernis.“ Weißt du noch, unsere allerersten Ferien damit ohne Mama und Papa? Wie wir „Dein ist mein ganzes Herz“ aus runtergekurbelten Fenstern schmetterten und ich mich am dritten Tag in den russischen Puppenspieler verknallte? Weißt du noch, die Apfelpfannkuchen im Baumhaus? Das Pony auf dem Sperrmüll? Der kopflose Bass? Weißt du noch, als sich die Gummibärchen unter der Scheibe auf dem Armaturenbrett in eine bunte Zuckerkachel verwandelten? Erinnerst du dich an das Gänsegeschnatter am See? Den Morgen mit den Störchen? Die Nachbarin ohne Klamotten? Daran von Kirchturmglocken geweckt zu werden? An unser Handklatschspiel?
Und erinnerst du dich an Zuhause? An Ellbogen auf Kissen auf Fensterbänken. „Geste der Provinz“, hast du dazu gesagt. Weißt du noch, als ich in den Gartenteich fiel und nicht ertrank? Denkst du manchmal an dein englisches Date und die Blutspur im Treppenhaus after your very first Vollrausch? An das Geflunker am nächsten Morgen bei Mandelstuten und Frühstücksei? An das Ächzen vom Schaukelstuhl, wenn wir uns auf Opas Schoß schmissen? Die Messlatte hinter der Wohnzimmertür? Wie wir uns davor einmal im Jahr aufbauten. Fersen an die Wand. Buch auf den Kopf. Bleistiftnotiz auf Raufasertapete. Erinnerst du dich an die Höhlen aus Decken, die Leuchtschuhe mit überkreuztem Klettverschluss, den Hühnerbaron, die Münzschluckerin, den zahmen Spatz Konrad, den Dackelbiss, den Geruch von Sprühpflaster, den Geschmack von Kranwasser, Malzbier, Knödel, an mich? Ich habe es geliebt, wenn du unten aus dem Etagenbett „bis morgen“ zu mir hochgeflüstert hast. Das war dein Versprechen, dass wir uns über Nacht nicht verlieren.
Die Sektflöte stößt dumpf gegen die Borke deiner Linde. „Happy Birthday, Bruderherz.“ Du wolltest keinen Grabstein. Erst leugnet und staunt und tobt und taumelt man ja. Dann beginnt das Spektakel: Alltag. Und in der Spüle stehen Gläser mit dunklen Pfützen und in der Tablettendose liegen Tabletten und im Büro sitzt jemand auf einem Drehstuhl und faselt von Buchstabenkombinationen auf Autokennzeichen. Morgen zwei Jahre.
„Geboren zur Schwester. Erkoren zum Einzelkind.“ Ey. Das hat WIRKLICH jemand auf eine Trauerkarte geschrieben. Danach warf ich alle übrigen Briefe ungeöffnet aus dem Fenster. Was heißt werfen. Ich stand in deinem alten Zimmer und das Fenster ließ sich nicht sperrangelweit öffnen. Nur auf Kipp. Es muss erbärmlich ausgesehen haben, wie ich die Umschläge durch den schmalen Schlitz quetschte. Manche zerfledderten. Ich glaube, Jens hat sie aufgesammelt und in einen Karton gelegt. Neulich habe ich ihm eine gescheuert, weil er den Staubsauger so heftig gegen den Tisch rammte, dass unser Bild zu Boden fiel. Vielleicht fang ich an, seltsam zu werden. Ich rede zu viel. Mit mir. Auch im Schlaf, sagt Jens. Wobei er natürlich nicht weiß, dass ich da mit dir rede. „Alles wird gut“, hast du gesagt. Morgen vor zwei Jahren. Ich hielt deine Hand. „Bis morgen.“ Es gibt Lügen, von denen erholt man sich sein Lebtag nicht.
Anne Florack