Die Ehe meiner Großeltern mütterlicherseits war durch Divergenz geprägt. Beider Vorstellungen über ihre gemeinsame Zukunft gingen stark auseinander. Aber sie waren nicht die Generation, die sich trennte. Stattdessen lebten sie einfach weiter zusammen und liebten sich auf ihre Art. Dennoch hatten die Kinder und wir Kindeskinder das Gefühl, weiter auseinanderdriften und dabei in einer Wuppertaler Wohnung wohnen – das geht nicht. Bei all den Unterschieden, die diese Ehe zementierte, war aber auf eins Verlass: Wir Enkelkinder standen immer an erster Stelle. Und wie die Natur halt ihre Sympathien verteilt, bildeten sich enge Bindungen jeweils an Oma – oder an Opa.
Mein Opa wurde am 21. März 1926 geboren. Er lebte, typisch für seine Generation, ein bewegtes Leben. Bereits als 15-Jähriger heuerte er im Zweiten Weltkrieg auf Schiffen an, ab 1941 absolvierte er seine Ausbildung auf See in der Schiffsjungenschule als sogenannter Moses, vom Bedienungsjungen, Messejungen bis zum Steward. Meine Lieblingscousine und ich haben Opas alte Seefahrtenbücher, seinen Gehilfenbrief, Dienstzeugnisse, Ausweise, Personalkarten, historische Dokumente und Fotos oft nächtelang gewälzt und dabei versucht, uns vorzustellen, wie es ihm damals ergangen ist. Darüber gesprochen hat er nämlich nie. Nicht, wenn er uns frühmorgens in den Barmer Anlagen Radfahren beibrachte. Nicht, wenn er für uns kochte und auch mit zunehmendem Alter sein ohnehin schon reiches Repertoire in der Küche für meine Cousine um vegetarische Gerichte erweiterte. Nicht, wenn er mit uns den ganzen Tag spazieren ging, mit uns spielte und für uns da war. Und das war er, immer für uns Enkelkinder da. Opa konnte gut zuhören, war stets ruhig und freundlich. Niemals habe ich ihn schlecht über andere reden hören. Er liebte die Menschen, ihre Geschichten und Eigenarten. Die einen sagen, er war der toleranteste Mensch auf der ganzen Welt. Die anderen sagen, es hat ihn nicht wirklich interessiert, was die anderen dachten. Er nahm es einfach hin.
Zwei Dinge waren Opa wichtig: Dass immer genug zu essen da war, auch wenn spontan jemand zu Besuch kam. Kein Gast ging bei ihm je hungrig heim. Und: Opa liebte Weihnachten. Für das Weihnachtsfest mit allen Kindern und Enkelkindern kochte und briet er tagelang vor und berücksichtigte dabei sämtliche Lieblingsessen der unterschiedlichen Familienmitglieder. Dass die große Fischplatte stets auf dem Dielen-Spiegel der Garderobe serviert wurde, habe ich erst viel später realisiert. Von besonderer Anmut war auch der Baum, mit seinen dicken LED-Kerzen und dem dichten Engelshaar. Ein leuchtender spinnennetzartiger Engelshaarkringel um jede Kerze. Wir Urenkel mussten Weihnachten auf Fußschemeln Platz nehmen, weil stets mehr Gäste zugegen als Sitzgelegenheiten vorhanden waren.
Von 1941 bis 1944 ist Opa zur See gefahren. Er wurde zwei Mal von U-Booten angeschossen und ist mit den Schiffen untergegangen, hat alles verloren, ist beim letzten Beschuss in Südamerika gestrandet. Nach dem Krieg hat er sich von dort aus nach Hamburg und zu Fuß weiter in seine Heimatstadt Ahlen durchgeschlagen. Das sind die wenigen Details, die verschiedene Familienmitglieder über sein Leben zusammengetragen haben. Und nicht alle Teile passen auf der Zeitachse nahtlos zueinander. Nach dem Krieg arbeitete Opa als Steward für die Amerikaner und brachte sich, seine Eltern und seinen Bruder zusätzlich mit Lebensmittelkarten und Zigarettenschmuggel durch. Auf dem Schwarzmarkt am Bahnhof in Ahlen lernte er 1946 meine Oma kennen. Sie sollte Zigaretten für ihren Vater kaufen und verpasste ihren Zug, weil mein Opa ihr gegenüber seinen Charme spielen ließ. So kam es, dass Oma statt zurück eine Nacht bei Opas Eltern verbringen musste und erst am Tag darauf zurück nach Wuppertal reisen konnte. In dieser einen Nacht, in diesen wenigen Stunden in Ahlen haben sich meine Großeltern ineinander verliebt. Denn auch vor ehelicher Divergenz steht anfangs immer erst die Liebe.
Als meine Großeltern am 1. August 1947 heirateten, war Oma bereits im vierten Monat schwanger mit meiner Tante. Später gebar sie drei weitere Kinder, blieb aber mit ihnen oft allein, weil Opa die Sommermonate an der Nordsee weilte. Ab 1960 arbeitete er jede Saison als Chefkellner in einem großen Familienhotel auf der Insel Juist. Er wollte immer dem Meer nahe sein, vielleicht weil es ihn an seine Jugend erinnerte. Jahr für Jahr verbrachte er die komplette Saison, etwa vier bis fünf Monate, auf der Insel. Natürlich haben wir ihn häufig während der Sommerferien auf der Insel besucht. Die Liebe zu Juist wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Unsere Tochter fährt bereits in der fünften Generation auf die Insel, meine Cousine lebt seit 2014 auf der schönsten Sandbank der Welt.
So wie unser Opa nicht mit uns über den Krieg sprach, so zeigte er uns auch nicht sein kleines Reich, in dem er die Sommer über auf engem Raum lebte. Nur ein einziges Mal machte er für mich eine Ausnahme – und nahm mich mit in sein Zimmer. Es war jener Sommer, in dem ich, gerade 14, als Zimmermädchen in Opas Hotel jobbte – und ich war sehr stolz. Das Zimmer war eine typische Bedienstetenkammer. Sehr klein und sehr spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle. Mehr nicht. Bis heute habe ich, was Unterkünfte angeht, einen Hang zum Minimalistischen: Bett, Tisch, Couch optional – reicht mir.
Einmal habe ich mir als junge Frau ein Herz gefasst und Opa gebeten, etwas über den Krieg zu erzählen, über seine Zeit auf See. Auch wollte ich von ihm hören, wie er Oma kennengelernt hat. Mich interessierte seine Sicht auf die Dinge und das Leben sehr. Zu meiner Überraschung hat er eingewilligt. Gemeinsam mit meiner Lieblingstante und ihrem Jüngsten spazierten wir durch die Wuppertaler Wälder und kehrten schließlich in ein Gasthaus ein. Mein Cousin war in dem Alter, in dem Kinder ununterbrochen reden. Ununterbrochen. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her, beteiligte mich am Plappern und am Ende des Tages verkündete mein Opa, jetzt sei es aber spät und er habe eine wichtige Lektion für uns: Es sei immer wichtiger, den Kindern zuzuhören. Immer. Ich habe danach nie wieder nach seinen Kriegserlebnissen gefragt. Vielleicht muss Vergangenes manchmal einfach ruhen.
Meine Schwester und meine Cousine sind acht Jahre jünger als ich. Auch ihnen hat mein Opa Radfahren beigebracht. Insbesondere zu meiner Cousine und ihrem jüngeren Bruder hatte er ein inniges Verhältnis, sie wohnten alle zusammen im Haus meiner Großeltern in Wuppertal, in verschiedenen Wohnungen. Wenn Opa auf Juist frei hatte, einmal die Woche, war er den ganzen Tag mit den Enkelkindern am Strand. Auch in seiner täglichen Mittagspause hat er immer versucht, das zu ermöglichen. Wenn er nicht mit uns am Strand war, waren wir Kinder häufig zum Mittagessen in seinem Hotel zu Gast. Wir bewunderten Opa, wenn er immer freundlich und lächelnd und akkurat in Bewegung und Eleganz die Gäste bediente – und ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich machte. 50 Jahre lang hat Opa als Oberkellner gearbeitet, stets im gleichen Hotel. Auch im hohen Alter fuhr er noch vom Asthma geplagt mit seinem Sauerstoffgerät mit dem Zug von Wuppertal nach Norddeich Mole, um dem Meer nah zu sein. Gestorben ist er in Wuppertal, im Sommer 2011 fand Oma ihn tot neben seinem Bett. Er war erstickt.
Das Unbeschwerte, die Leichtigkeit, die Schönheit, der Spaß, die seiner eigenen Jugend abgingen, hat er uns gegenüber stets verbreitet. Wie es ihm während der Kriegsjahre ergangen ist, darüber hat er nie gesprochen. Lieber stand er lächelnd am Strand. Am Meer. Auf der Insel, die er so liebte: auf Juist.
Jasmin Schemann